55 Migrant*innen geraten auf dem Ärmelkanal in Seenot. Das Wasser beginnt in das Boot einzudringen und die betroffenen Personen schicken ihren Aufenthaltsort an ein Team von Utopia56, welches von Land aus versucht Hilfe zu koordinieren. Solche Anrufe gehören nicht nur zur Realität von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich in der Region um Calais engagieren, sondern werden mit den steigenden Überfahrten zunehmend alltäglich. Dabei kompensiert die elementare Arbeit dieser NGOs oft für staatliche Passivität und Gleichgültigkeit.
Im Folgenden ist eine Übersetzung der Einsatzbeschreibung eines Utopia56-Team der Nachtschicht zu finden, nachdem ein Anruf von in Seenot geratenen Migrant*innen auf dem Notfalltelefon einging. Das Protokoll wurde am 30. September auf dem Twitterkanal von Utopia56 veröffentlicht (siehe hier).
Eine der Hauptaufgaben der Teams der Nachtschicht ist die Bereitstellung von Nothilfe, indem sie zum Beispiel Wärmedecken und Heißgetränke an Schiffbrüchige oder erschöpfte Migrant*innen verteilen. Gleichzeitig gibt es ein Notfalltelefon, welches 24 Stunden an 365 Tagen von einem zwei- bis dreiköpfigen Team von Freiwilligen besetzt ist. Die Notfallnummer von Utopia56 wird während der „Marauden“ an verschiedenen informellen Lebensorten an Migrant*innen verteilt, um eine möglichst große Reichweite zu ermöglichen. Die eingehenden Anrufe reichen von neuankommenden und desorientierten Familien, die eine Erstversorgung und Reorientierung zu sichereren Schlafplätzen brauchen, bis hin zu medizinischen Notfällen und Anrufen von in Seenot geratenen Mirant*innen.
Der Einsatz
Freitag, 23.54 Uhr: Das Notfalltelefon von Utopia 56 Grande-Synthe klingelt. 55 Migrant*innen sind auf See in Seenot. Sie haben ein Loch im Boot und das Wasser beginnt einzudringen. Sie senden uns ihren Aufenthaltsort.
23:58 Uhr: Wir alarmieren die Küstenwache, die eingreifen wird. Wir erhalten weiterhin Nachrichten aus dem Boot: „Helft uns“, „Wir sind dabei zu sterben“.
01:11 Uhr: Nachdem sie zwei Stunden im Wasser verbracht haben, werden die Personen gerettet und am Rand eines französischen Strandes an Land gebracht. Es regnet in Strömen und die Temperatur liegt bei 7 Grad.
01:33 Uhr: Unser Team findet die durchnässten und frierenden Personen. Wir alarmieren die Feuerwehr – etwa zehn Personen befinden sich in besorgniserregenden Zuständen – und verteilen Rettungsdecken, Snacks und Wasser.
02:44 Uhr: Die Feuerwehr misst die Körpertemperatur – einige Personen sind unterkühlt, aber es wird kein lebensbedrohlicher Notfall festgestellt. Die Feuerwehrleute fahren zurück: „Tut uns leid, wir können nichts mehr tun“.
03:23 Uhr: Wir rufen die Notrufnummer 115 an, um die Menschen in Notunterkünften unterzubringen – unser.e Gesprächspartner.in versucht, eine Lösung zu finden – in der Zwischenzeit dient unser Auto als Unterkunft.
04:22 Uhr: Keine Unterkunft für die Nacht, wir fahren die Personen zum Lager – wir geben einige Decken, Pullover und Socken aus – wir hören: „Wir waren am Sterben“, „Wir waren drei Stunden auf dem Meer und als wir am Strand abgesetzt wurden, sagten sie: los!“
05.17 Uhr: Der Tag bricht an – es regnet immer noch – Die Menschen sind traumatisiert. Zwei von ihnen werden uns im Laufe des Tages zurückrufen, um ins Krankenhaus gebracht zu werden.
Die Anzahl der Überquerung des Ärmelkanals mit Booten hat sich bereits am 21. September 2022 mit über 30.000 Personen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdoppelt. Doch die Gefahren dieses Migrationspfads bestehen fort und die unabdingbare Arbeit von NGOs wie Utopia56 trägt fundamental dazu bei, dass es in diesem Jahr erst zu einem dokumentierten Todesfall bei versuchten Überquerungen des Ärmelkanals kam. Nicht nur in der Rettung von Migrant*innen bestehen strukturelle und lebensgefährdende Missstände. Auch in der Erst-und Nachsorge von in Seenot geratenen Menschen, kommt es auf offizieller Seite zu signifikanten Defiziten. Exemplarisch ist das Fehlen von psychologischer Unterstützung von Betroffen nach einer solch traumatischen Erfahrung, sowie eine ausreichende Erstversorgung und der Zugang zu Notunterkünften für unterkühlte Migrant*innen.
Wie Utopia56 schreibt wird „wenige Tage später (…) die 34. Räumung des Jahres (Zahlen von Human Rights Observers) das Wenige, was sie hatten, zerstören.“ Die Teams treffen „(j)ede Nacht (…) auf Frauen, Männer und Kinder, die bei ihrem Versuch, nach Großbritannien zu gelangen, scheitern. Ohne eine wirksame und humane Willkommenspolitik und trotz ihrer traumatischen Erlebnisse werden diese Menschen in wenigen Tagen erneut versuchen, nach Großbritannien zu gelangen.“