Ungefähr 37.000 Menschen haben seit Beginn dieses Jahres den Ärmelkanal in kleinen Booten durchquert. Trotz der sinkenden Temperaturen und der schwieriger werdenden Verhältnisse auf See ist die Zahl der täglichen Überfahrten nach wie vor hoch. Mit dem Beginn der kalten Jahreszeit sind die Passagen jedoch riskanter geworden und die Zahl der Havarien nimmt zu.
Je nach Wetterlage, erreichten in der ersten Oktoberhälfte an manchen Tagen mehrere hundert Bootspassagier_innen britisches Hoheitsgebiet, während an anderen Tagen keine Überfahrten stattfanden. Am 9. Oktober registrierten die britischen Behörden 1.065 Passagier_innen in 25 Booten, einen der höchsten Tageswerte dieses Jahres. Es folgten die Überfahrten von 539 Menschen in 13 Booten am 10. Oktober, 374 Menschen in 7 Booten am 11. Oktober, 851 Menschen in 19 Booten am 12. Oktober und 496 Menschen in 11 Booten am 14. Oktober. Es ist absehbar, dass in einigen Wochen die Zahl von 40.000 Bootspassagen seit Jahresbeginn überschritten sein wird.
Bereits Ende September häuften sich im französischen Hoheitsgewässer gefährliche Situationen. So wurde ein Boot mit 45 Personen nach Motorschäden vom Kurs abgetrieben und schließlich vor Camiers in der Nähe von Le Touquet gerettet. Etwa zur gleichen Zeit geriet ein mit etwa 50 Personen besetztes Boot vor Leffrinckoucke nahe Dunkerque in Schwierigkeiten; vier Passagiere sprangen in Panik ins Meer, um sich ans Ufer zu retten. In einem dritten Fall hatte ein Boot mit 43 Passagieren den Strand von Merlimont verlassen, wo die Gendarmerie versucht hatte, es daran zu hindern. Kurz nach dem Ablegen fielen drei Männer ins Meer und wurden von dem zurückkehrenden Boot wieder an Bord genommen, das seine Fahrt anschließend fortsetzte. Die wegen dieses Zwischenfalls alarmierte zivile Seenotrettungsgesellschaft SNSM fand das Boot schließlich nahe der britischen Hoheitsgewässer und eskortierte es, bis die britischen Behörden es übernahmen. Die drei von Bord gefallenen Personen wurden nach Frankreich zurückgebracht und mit Unterkühlung in das Krankenhaus eingeliefert.
Am 9. Oktober – dem Tag, an dem über tausend Menschen übersetzten – kam es zu mehreren Havarien vor der französischen Küste. Insgesamt bargen die französischen Behörden und Rettungsdienste 367 Menschen aus Seenot. Die beiden eingesetzten Schiffe der SNSM nahmen an diesem Tag 68, 52, 45 Schiffbrüchige in der Nähe von Dunkerque an Bord. Die französische Marine rettete 68, 53 und 37 Personen vor der Küste des Pas-de-Calais und die Gendarmerie Maritime 44 Menschen vor Boulogne-sur-Mer.
Einige Tage später, am 12. Oktober, brachte die Gendarmerie Maritime 32 aus Seenot gerettete Passagier_innen in den Hafen von Boulogne-sur-Mer. Drei Kinder im Alter von 14 Monaten, drei und acht Jahren wurden wegen Unterkühlung in das Krankenhaus gebracht.
Die auf See geretteten Menschen wurden, wie üblich, in Häfen von Calais, Boulogne-sur-Mer und Dunkerque gebracht und der Feuerwehr bzw. der Grenzpolizei übergeben. Vielfach blieben sie sich danach selbst überlassen, wie wir zuletzt an dieser Stelle berichteten. Der von Utopia 56 dokumentierte Fall unterstreicht die Bedeutung, die zivilgesellschafgtliche Organisationen wie Utopia 56 inzwischen für Exilierte besitzen, die auf See in akute Gefahr geraten oder nach ihrer Rettung keine angemessene Hilfe erhalten.
Auch in britischen Gewässern fanden Rettungseinsätze statt: Am 15. September wurden vor der Küste von Kent 38 Exilierte aus Seenot gerettet. Am 4./5. Oktober folgte nach Notrufen eine groß angelegte Suchaktion, bei der nach Angaben eines britischen Regierungssprechers „alle Boote gefunden“ werden konnten.
Vorfälle wie diese, so kommentierte ein Sprecher der NGO Channel Rescue, „zeigen einmal mehr, dass die Regierung zu Beginn der Wintermonate für sichere Routen für Menschen sorgen muss, die aus Nordfrankreich nach Großbritannien flüchten wollen. Es gibt absolut keinen Grund, warum jemand gezwungen sein sollte, diese gefährliche Überfahrt zu machen“.
Genau dies ist jedoch nicht zu erwarten. Wenn im Laufe des Herbstes neue britisch-französische Vereinbarungen über die Bootspassagen getroffen werden, wie Liz Truss und Emanuel Macron es jüngst angekündigt haben, so werden sie keine risikolose Einreise eröffnen, sondern das bestehende Grenzregime fortschreiben und verhärten. Neben der kalten Jahreszeit macht auch dies die Passagen gefährlicher.