Der britische High Court hat in einer Entscheidung vom 19. Dezember 2022 den vorläufig gestoppten Plan der britischen Regierung für rechtmäßig erklärt, Menschen, die in Großbritannien Asyl beantragen, nach Ruanda zu verbringen, wo sie ein Asylverfahren nach ruandischem Recht durchlaufen können.
In seiner Presseerklärung erklärt das Gericht, die britische Regierung habe Beweise dafür vorgelegt, dass sie mit der ruandischen Regierung Vereinbarungen getroffen habe mit dem Ziel, dass über den Asylanspruch der nach Raunda verbrachten Personen zutreffend entschieden werde. Unter diesen Bedingungen sei die Verbringung von Asylsuchenden nach Ruanda vereinbar mit der Genfer Flüchtlingskonvention und anderen gesetzlichen Verpflichtungen der Regierung, einschließlich des Human Rights Act von 1998.
Reaktionen auf das Urteil
Enver Solomon, Vorsitzender des Refugee Council, äußerte sich sehr enttäuscht über das Urteil. Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit seien, wie Fracht zu behandeln und in ein anderes Land zu transportieren, sei eine grausame Politik, die großes menschliches Leid verursachen werde. Zudem sei sie unpraktikabel, extrem teuer und werde keinesfalls die von der Regierung in den Raum gestellte Größenordnung erreichen. Ähnlich äußerten sich andere Gruppen wie Safe Passage International, Oxfam, Amnesty International UK, Choose Love und in einem gemeinsamen Statement zahlreiche in Calais aktive Organisationen.
Migration Observatory, eine Gruppe an der Universität Oxford, die sich mit Migrationspolitik beschäftigt, bezeichnete das Urteil als erwartbar. Dennoch erwarten sie nicht, dass die nun als legal erklärte Praxis, die Überfahrten der kleinen Boote abschrecken werde. Care4Calais äußerte sich ebenfalls enttäuscht über den Ausgang des Verfahrens, weist aber darauf hin, dass die Entscheidungen in den individuellen Verfahren viele problematische Punkte adressiert haben, die den Menschen, die eine Ankündigung für eine Deportation nach Ruanda erhalten, die Möglichkeit zur rechtlichen Gegenwehr bieten.
Die ehemalige britische Innenministerin Priti Patel begrüßte hingegen, die Einstufung ihres „weltweit führenden“ Abkommens mit Ruanda als legal. Ihr Nachfolgerin, Suella Braverman, kündigte an, das Abkommen, so schnell wie möglich umzusetzen; mit ihrer ebenfalls angekündigte Bereitschaft, das Abkommen gegen weitere juristische Herausforderungen zu verteidigen, deutet sie aber auch an, dass sie nicht davon ausgeht, dass mit dem heutigen Urteil das juristische Tauziehen beendet sein wird.
Die Opposition von Labour und Liberaldemokraten hingegen forderten die Regierung auf, von dem „undurchführbaren, unethischen, und unverschämt teueren“ Plan Abstand zu nehmen.
Der Prozess
Für den 14. Juni 2022 war der erste Abschiebeflug nach Ruanda geplant gewesen. Nachdem ein einstweiliger Rechtsschutz vor britischen Gerichten nicht von allen Betroffenen erreicht werden konnte, setzte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Flüge aus, solange das nun gefällte Urteil noch nicht vorlag.
Im jetzigen Prozess hatten acht von dem geplanten Abschiebeflug im Juni betroffene Personen gegen das britische Innenministerium geklagt. Während der ersten Verhandlungstage bezeichnete das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die Pläne der Regierung als „unvereinbar mit den grundlegenden Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs”. Auch sei der Ruanda-Deal eine „Lastverschiebungsvereinbarung”, die ein „ernsthafte[s] Risiko” für einen Grundwert der Genfer Flüchtlingskonvention darstelle, nämlich das Non-Refoulement-Gebot, das verbietet, Menschen auszuweisen oder in ein Land zurückzuschicken, in dem ihr Leben und ihre Sicherheit in Gefahr sein könnte.
David Pannick, der die Regierung in dem Prozess vertrat, konzentrierte seine Argumentation darauf, dass Großbritannien seine internationalen Verpflichtungen entweder durch ein eigenes Asylverfahren oder mit der Verbringung in einen sicheren Drittstaat erfüllen könne. Es liege ausschließlich in der Macht des britischen Innenministeriums, zu bestimmen, ob ein Staat sicher sei, und das Gericht habe keine Kompetenz, diese Macht zu begrenzen. Das Innenministerium mache sich in „in allen Fällen” ein Bild „von der generellen Sicherheit des [Dritt-]Staates und … berücksichtigt die Sicherheit des [für die Abschiebung vorgesehenen] Individuums unter Berücksichtigung seiner besonderen Umstände.”
Die britische Regierung ging damit aufs Ganze: anstelle von parlamentarischer Kontrolle und individueller juristischer Überprüfbarkeit sollte im künftigen Migrationssystem ausschließlich unanfechtbares Verwaltungshandeln gelten.
Erste Bewertung und Folgen
Auch wenn eine detaillierte Analyse der Urteilsbegründung noch aussteht, mochte der High Court dieser Selbstentmachtung der Justiz anscheinend nicht folgen, und ließ die Frage eines individuellen Rechtsschutzes offen. Wie heikel eine andere Entscheidung über die Beschädigung rechtsstaatlicher Grundsätze hinaus gewesen wäre, wird an der Entwicklung des letztlich gescheiterten ersten Abschiebefluges im Juni deutlich. Schon vor seinem endgültigen Stopp gelang es 123 von 130 zur Abschiebung nach Ruanda vorgesehenen Menschen mit gerichtlicher Hilfe, ihre Deportierung zu verhindern. Unter den erfolgreich geltend gemachten Abschiebehindernissen ist der Fall von zwei Minderjährigen hervorzuheben, die vom Innenministerium kurzerhand als volljährig eingeschätzt worden waren.
Stattdessen war das zentrale Argument eine juristische Besonderheit internationaler Verträge gegenüber britischem Recht. In der Urteilsbegründung vom 19. Dezember 2022 heißt es:
Herr Drabble KC [Anwalt einer der Kläger] brachte vor, dass die Flüchtlingskonvention den Vertragsstaaten die Verpflichtung auferlege, alle gestellten Asylanträge nach ihrer Begründetheit zu prüfen. Wir stimmen dem nicht zu. Eine solche Verpflichtung besteht nach dem Übereinkommen nicht. Die auferlegte Verpflichtung ist die in Artikel 33, einen Flüchtling nicht an einen Ort auszuweisen oder an einen Ort zurückzubringen, an dem sein Leben oder seine Freiheit aufgrund eines der Merkmale, die die Konvention schützt, bedroht wäre. Herr Drabble brachte vor, dass eine Verpflichtung zur Prüfung von Asylanträgen mit Sinn und Zweck der Konvention vereinbar sei und daher vernünftigerweise angenommen werden könne. Auch hier widersprechen wir. Verpflichtungen in internationalen Verträgen werden mit großer Sorgfalt formuliert. Sie spiegeln Ergebnisse wider, die nach detaillierten Verhandlungen zwischen den Vertragsstaaten erzielt wurden. Eine Verpflichtung, jeden Asylantrag dem Grunde nach zu prüfen, wäre eine wesentliche Ergänzung der Flüchtlingskonvention. Es gibt keinen Anhaltspunkt für das Bestehen einer Verpflichtung diesen Grades; dies würde die Grenzen jeder Vorstellung von der juristischen Konstruktion eines internationalen Abkommens weit überschreiten; und der Schutz, der erforderlich ist, um den Zweck des Übereinkommens zu erreichen, wird durch Artikel 33 gewährt.
Urteilsbegründung des High Court vom 19. Dezember 2022, Abschnitt 121
Es ist davon auszugehen, dass die britische Regierung das Programm der Deportationen nach Ruanda nun wieder aufnehmen wird. Es dürfte jedoch weiterhin Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen bleiben – sowohl insgesamt, als auch individuell für die Menschen, die zur Deportation vorgesehen sind. Dennoch stellt das heutige Urteil eine empfindliche Niederlage für das individuelle Recht auf Asyl und eine Bedrohung für Exilierte in Großbritannien dar.
Alleine die Ankündigung der Abschiebung nach Ruanda hatte bereits während des noch laufenden Prozesses vor dem High Court für die Betroffenen fatale Auswirkungen. Anfang Juni wies das französische Onlinemedium InfoMigrants darauf hin, dass in britischen Medien „immer mehr Beispiele“ für Suizidversuche und Suizidankündigungen im Zusammenhang mit dem britisch-ruandischen Migrationsdeal zu finden seien: „Eine Iranerin, die einen Suizidversuch unternommen hatte, wurde in letzter Minute gerettet. Sie wurde notfallmäßig ins Krankenhaus eingeliefert, weil sie ihre bevorstehende Abschiebung nach Ruanda zur Bearbeitung ihres Asylantrags nicht mehr ertragen hätte. Die gleiche Verzweiflung herrschte bei einem 40-jährigen Jemeniten, der ebenfalls versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. In einem an Premierminister Boris Johnson gerichteten Video erklärte er, ‚keine andere Wahl zu haben‘. Der junge Mann hatte bei seiner Ankunft auf britischem Boden erfahren, dass ihm eine Abschiebung in das 7000 km entfernte Land drohte.“