Seit 1999 starben im britisch-kontinentaleuropäischen Grenzraum mehr als 360 Menschen. Sie alle sind direkt oder indirekt Opfer einer Migrationspolitik, die eine sichere und legale Passage der Grenze für sie unmöglich gemacht hat. Keiner dieser Menschen hätte in einer anderen politischen Konstellation sterben müssen. Zivilgesellschaftliche und politische Initiativen sowie das Missing Migrants Projekt der IOM dokumentieren das Geschehen seit Jahren. Auch wir haben über alle Fälle, die uns bekannt geworden sind, berichtet. Fügt man diese Informationen zusammen, so zeigt sich, dass 2022 mindestens neunzehn Migranten ums Leben kamen (die männliche Form trifft zu, denn es waren keine Frauen unter den dokumentierten Fällen). Sie starben in unterschiedlichen Situationen teils auf Land und teils auf See, teils bei versuchten Grenzpassagen, teils durch Suizid oder durch Gewalt, teils im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in einem informellen Camp oder in einer offiziellen Einrichtung. Da mehrere Menschen nach Havarien vermisst werden, muss von weiteren Todesfällen ausgegangen werden.
14. Januar 2022: Bei der versuchten Bootspassage des Ärmelkanals starb Ezzadine Soleiman Abdallah aus dem Sudan. Er stürzte bei Berck-sur-Mer südlich von Boulogne von einem mit rund 30 Personen besetzten Schlauchboot, das in Seenot geraten war. Aus dem eisigen Wasser konnte er nur noch tot geborgen werden. Nach ein oder zwei weiteren Personen wurde gesucht. Ob sie weiterhin als vermisst gelten, ist nicht bekannt. (siehe hier)
15. Januar 2022: Im Gewerbegebiet Transmarck in Marck, einer Nachbargemeinde von Calais, starb Abdallah Saleh aus dem Sudan beim Versuch, auf einen Lastwagen nach Großbritannien aufzuspringen. Es war der vierte Todesfall bei einer vergleichbaren Situation in Transmarck seit September 2021. (siehe hier)
22. Januar 2022: Ein Mann aus Eritrea wurde auf der belgischen Küstenautobahn E 40 zwischen Gistel und Mittelkerke in Belgien von einem Auto erfasst und von mehreren weiteren Fahrzeugen überrollt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft war er aus einem fahrenden Lastwagen gesprungen, auf dem sich noch sieben andere Migrant_innen befanden. (siehe hier und hier)
25. Januar 2022: An der Zubringerautobahn zum Fährhafen von Calais wurde Mohamad Abdallah Youssef aus dem Sudan tot aufgefunden. Er starb bei einem Versuch, auf einen Lastwagen nach Großbritannien zu gelangen (siehe hier).
28. Februar 2022: In Marck bei Calais wurde Abubaker Alsaken aus dem Sudan von einem Zug erfasst und getötet. Das Unglück ereignete sich unmittelbar neben dem Camp Old Lidl, in dem er gelebt hatte. Die unmittelbar am Camp vorbeiführende Bahnstrecke war ungesichert; in einiger Entfernung war 2021 bereits ein anderer Geflüchteter von einem Zug tödlich verletzt worden. (siehe hier und hier)
10. März 2022: Auf der Küstenautobahn E 40 bei Nouvelle-Église westlich von Calais wurde ein Geflüchteter von einem Auto erfasst und tödlich verletzt. Über seine Identität wurde bekannt, dass er erst kurz zuvor aus dem Sudan nach Frankreich gekommen war. (siehe hier)
25. März 2022: Im Bahnhof von Valenciennes starb Yassin Osman aus Ertrea nach einem Stromschlag. Er befand sich gemeinsam mit drei Freunden auf dem Dach eines Zuges in Richtung Calais. Die drei anderen wurden verletzt, überlebten aber. (siehe hier)
11. Mai 2022: In einem stillgelegten Laster im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais fanden Bewohner_innen des nahe gelegenen Camps Old Lidl die Leiche von Hassan. Der junge Mann aus dem Sudan hatte vergeblich in Deutschland, der Schweiz und Frankreich Asyl gesucht und war verzweifelt. Er beging Suizid. (siehe hier und hier)
Der Todesfall weckte die Befürchtung, dass das im Vormonat geschlossene Abkommen zur Deportation von Channel migrants nach Ruanda weitere Menschen in den Suizid treiben könne. In der Tat wurden danach mehrere Suizidversuche und -ankündigungen in Großbritannien bekannt (siehe hier).
23. Mai 2022: Im Verlauf einer gewaltsamer Auseinandersetzungen wurde Omar Faiq Twfiq aus dem kurdischen Teil des Irak im Jungle von Loon-Plage, einem großen Camp bei Dunkersche, erschossen. Eine weitere Person wurde in der Nähe angeschossen. Bereits am Vortag war es zu einer Schießerei am Rande des Jungle gekommen. Verantwortlich für die Gewalt waren wahrscheinlich Schleuser. (siehe hier)
29. Mai 2022: In Calais wurde Meretese Kahsay aus Eritrea von einem Güterzug erfasst und tödlich verletzt. Der Unfall ereignete sich auf derselben Bahnstrecke, auf der es 2021/22 bereits zwei weitere Todesfälle gegeben hatte. (siehe hier)
7. Juni 2022: In der Nähe von Loon-Plage bei Dunkerque wurde Ahmed Hasan Abdiaziz aus dem Sudan von einem Lastwagen angefahren und tödlich verletzt.
28. Juni 2022: Auf einer Straße in der Nähe des Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque wurde ein Geflüchteter von einem Lastwagen verletzt und starb am 30. Juni im Krankenhaus. Die Staatsanwaltschaft ging von einem Suizid aus. Über die Identität des Mannes ist bekannt, dass er vermutlich aus Somalia kam. (siehe hier)
9. August 2022: Am Rand des Jungle von Loon-Plage ertrank Mohamed Ali aus dem Südsudan. Er stürzte an einer improvisierten Waschstelle in einen Hafenkanal, der am Camp vorbeiführt. Elementare sanitäre Infrastrukturen sowie ein ausreichender Zugang zu Wasser waren nicht vorhanden. (siehe hier)
9. September 2022: Nach erneuten gewalttätigen Auseinandersetzungen im Jungle von Loon-Plage starb Gebrel Tezera aus Eritrea an einer Schussverletzung. In der Nacht vom 6./7. September hatte er einen Schuss in den Kopf und ein anderer Mann einen Schuss in die Brust erlitten. Lokale Medien verglichen die Tat mit einer Hinrichtung und vermuteten eine Machtdemonstration von Schleusern gegenüber afrikanischen Bewohner_innen des Camps. Über einen kurdischen Mann, der am folgenden Tag im Jungle niedergeschossen wurde, meldeten lokale Medien später, er sei hirntot. Ob er tatsächlich für tot erklärt wurde, ist uns nicht bekannt. (siehe hier und hier).
19. November 2022: Im britischen Manston starb Hussein Haseeb Ahmed aus dem irakischen Teil Kurdistans im britischen Lager Manston an Diphterie. Er hatte den Ärmelkanal am 12. November überquert und war in das völlig überbelegte Lager gebracht worden. Dort war es zu einem Ausbruch der Infektionskrankeit gekommen. (siehe hier)
14. Dezember 2022: Bei der Havarie eines von etwa 50 Menschen besetzten Schlauchboots nahe der britisch-französischen Seegrenze starben vier Geflüchtete. Über ihre Identität ist bislang nur bekannt, dass zwei von ihnen aus Afghanistan und zwei aus dem Senegal kamen. Das havarierte Boot war vor dem Eintreffen britischer Rettungsdienste zufällig von einem Fischer entdeckt worden. Bis zu sechs weitere Menschen galten am 23. Dezember noch als vermisst. (siehe hier und hier)