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Channel crossings & UK

Über 45.000 Bootspassagen im Jahr 2022

Im vergangenen Jahr überquerten 45.670 Menschen den Ärmelkanal auf riskante Weise per Schlauchboot. [Update: Am 2. Januar wurde die Zahl konkretisiert auf 45.756 Personen.] Dies waren so viele wie noch nie, seitdem im Herbst 2018 zum ersten Mal einige hundert Geflüchtete per Boot übergesetzt und damit eine neue maritime Migrationsrote in Europa erschlossen hatten. Der abermalige Anstieg der Passagen fällt in eine Zeit, in der sich die nach rechts gerückte britische Regierung als Promotor einer neuen inernationalen Migrationspolitik inszeniert, die in ihrer Radikalität inzwischen ohne weiteres mit dem Italien Melonis oder dem Ungarn Orbans verglichen werden kann.

Entwicklung der Bootspassagen im Ärmelkanal im Vergleich der Jahre 2018 bis 2022, Stand: 20.12.2022. (Quelle: BBC)

Die massiven Investitionen der britischen Regierung in die Bekämpfung der small boats haben auch 2022 nicht zu der seit vier Jahren immer wieder angekündigten Trendumkehr geführt. Und nicht nur das: Betrachten wir den Verlauf über das Jahr hinweg, so zeigt sich auch 2022 das aus den Vorjahren bekannte saisonale Muster: Auf einen Anstieg der Passagen im Frühjahr und eine stark frequentierte Phase im Spätsommer folgte ein Rückgang mit dem Beginn des riskantesten Zeit des Jahres. Weder die Übertragung der Grenzüberwachung an das Militär, die Verabschiedung des restriktiven Nationality and Boders Act und die Ankündigung von Deportationsflügen nach Ruanda im April, noch der in letzter Minute gestoppte Beginn der Ruanda-Abschiebungen im Juni oder eine großangelegte Polizeioperation gegen einen der Hauptakteure der Schleuserstrukturen im Juli haben im Kurvenverlauf Spuren hinterlassen.

Zumindest für das Jahr 2022 lässt sich damit konstatieren, dass die Grenzpolitik der nationalkonservativen Londoner Regierung zwar ein hohes Maß an menschlichem Elend in den nordfranzösischen Camps produziert und eine aus humanitärer wie menschenrechtlicher Hinsicht unhaltbare Situation weiter verfestigt hat. Aber für ihr politisches Projekt, auf internationaler Bühne zum Modell und Maßstab einer neuen Migrationspolitik werden, fehlt ihr ein entscheidener Zwischenerfolg: die Bootspassagen mit dem ideologischen Arsenal radikaler Brexiteers verringert zu haben.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass das antimigrantische Projekt beendet wäre. Vielmehr zeichnet sich ab, dass die britische Regierung es in den kommenden Monaten weiter radikalisieren wird. Angesichts der nachhaltigen ökonomischen Folgen des Brexit, der akuten sozialen Krise und der schwierigen Startbedingungen der Konservativen Partei im nächsten Wahlkampf dürften die Channel migrants zum Gegenstand einer antimigrantischen Mobilisierung werden, die letztlich auch losgelöst von der Realität wirken und funktionieren kann. In einem solchen Kontext könnten extreme und disruptive Initiativen, wie es der Deal mit Ruanda bereits ist, leicht zum Mittel der Wahl werden.