[Updated, 12. Mai 2023] Am Nachmittag des 10. Mai 2023 starb in Calais erneut ein Geflüchteter. Lokalen Medien zufolge wurde er auf der Autobahn 216 an der südöstlichen Peripherie der Stadt von einem Lastwagen erfasst und tödlich verletzt. Über die Identität des Mannes ist bekannt, dass es sich um einen etwa dreißigjährigen Exilierten aus dem Sudan handelt.
Die in Calais auch unter den Namen Rocade bekannte Autobahn ist der wichtigste Zubringer des Lastkraftverkehrs zu den Fähren nach Großbritannien. Teile der nur wenige Kilometer langen Strecke sind durch Hochsicherheitszäune und -mauern abgesperrt. In der Nähe der Todesstelle ist die Autobahn jedoch noch zugänglich. In der Nähe befindet sich ausserdem das auf Frachtverkehr und Logistik spezialisierte Gewerbegebiet Transmarck, unmittelbar daneben liegt der momentan größte informelle Lebensort von Exilierten in Calais: das Camp Old Lidl. Dort leben vor allem Geflüchtete aus dem Sudan.
Was genau am 10. Mai geschah, ist bislang erst ansatzweise bekannt. Zunächst schien es, der Mann könne, wie andere Geflüchtete auch, versucht haben, auf ein Fahrzeug nach Großbritannien zu gelangen. Entsprechend schrieb die Lokalzeitung La Voix du Nord von einem Unfall. Zwei Tage später, zitierte dieselbe Zeitung den Staatsanwalt von Boulogne-sur-Mer, Guirec Le Bras, mit der Aussage: „Wir gehen von einer suizidalen Ursache aus.“ Der Mann habe sich auf dem Seitenstreifen befunden, von wo aus er „auf die Fahrzeuge zuging“.
In lokalen Berichten heißt es weiter, dass sich nach dem Tod etwa zwanzig Exilierte an einer nahe gelegenen Autobahnbrücke aufhielten. „Man sagte uns, dass wir einen unserer Brüder verloren hätten“, zitiert die Zeitung La Voix du Nord einen von ihnen. Umringt von CRS, hätten sie auf Informationen über die Identität des Getöteten gewartet und gebeten, ihn sehen zu dürfen. „Wir wollen nur wissen, wer es ist.“ Inzwischen wurde bekannt, dass er mit Vornamen Ahmed hieß.
Immer wieder sterben in Calais Menschen beim Versuch, auf Lastfahrzeuge zu gelangen, aber auch durch Suizid. Die meiste Todesfälle ereignen sich an/auf derselben Autobahn sowie an einem Bahngleis, das u.a. am Camp Old Lidl vorbeiführt. Zwischen den einzelnen Todesorten liegen nur wenige hundert Meter. Der Anteil sudanischer Staatsangehöriger unter den Todesopfern ist besonders hoch (siehe hier). Ein Grund hierfür ist, dass viele von ihnen nicht den Preis für eine Bootspassage aufbringen können und daher auf den Lastkraftverkehr ausweichen.
Nach der Zählung von La Voix du Nord ist es der 148. Todesfall in Calais und Umgebung seit der Jahrtausendwende. Im gesamten kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsraum sind über 360 Todesfälle dokumentiert. Seit Jahresbeginn starben bereits zwei andere Menschen: Ein ebenfalls aus dem Sudan stammender Mann beging am 3. Januar in der Nähe der jetzigen Todesstelle Suizid, ein weiterer Exilierter starb am 14. Februar bei Dunkerque an einer Schussverletzung (siehe hier, hier und rückblickend hier).
„Ein weiterer Toter an dieser Grenze, an der Stacheldraht und Mauern wachsen, weil es keine würdige Aufnahme und keine sicheren Wege ins Vereinigte Königreich gibt“, schrieb der Journalist Louis Witter nach Ahmeds Tod: „Es hört nie auf.“ Am Abend des 11. Mai gedachten in der Calaiser Innenstadt etwa hundert Menschen ihm und der anderen Toten dieser Grenze.