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Channel crossings & UK

Allmählicher Start des britischen Lagersystems

Die seit dem Frühjahr geplanten Massenunterkünfte der britischen Regierung für Bootspassagiere (siehe hier) nehmen allmählich ihren Betrieb auf. Mitte Juli wurden die ersten 46 Männer auf das stillgelegte Militärgelände Wethersfield in der Grafschaft Essex gebracht, weitere 50 Männer sollen am morgigen 1. August auf dem Schiff Bibby Stockholm in Portland untergebracht werden. Die Kapazität dieser beiden sowie einer dritten Anlage soll bis zum Herbst stark erhöht werden, auch mit Hilfe von Zelten.

Die lagerartigen Einrichtungen dienen der Ausführung der neuen Bestimmungen, die der Illegal Migration Act für Menschen vorsieht, die nach Ansicht der Regierung illegal über den Ärmelkanal in das Vereinigte Königreich eingereist sind. Nach den ursprünglichen Vorstellungen sollten die Channel migrants nach ihrer Anlandung inhaftiert werden, keinerlei Zugang zum britischen Asylsystem erhalten und rasch nach Ruanda oder in einen anderen Drittstaat verbracht werden. Der 2022 mit Ruanda geschlossene Migrationsdeal bildet ein Schlüsselelement des neuen Gesetzes, jedoch hat er sich bislang als undurchführbar erwiesen und Alternativen in Form anderer Vertragsstaaten besitzt die Regierung nicht. Damit verändert sich auch die Funktion des Lagersystems von einer Art kollektiver Abschiebehaft hin zu Massenunterkünften für Menschen mit dem momentan erst schwer fassbaren Status der „Unzulässigkeit“. Ein großer Teil der Bewohner wird voraussichtlich also in Großbritannien bleiben, wenn auch mit unsicherem Status. Der ursprüngliche Gedanke einer haftähnlichen Unterbringung während der imaginierten Phase zwischen Schlauchboot und Ruanda dürfte das Konzept der neuen Massenunterkünfte dennoch geprägt haben.

Die ersten 46 Geflüchteten trafen nun am 12. Juli 2023 in Wethersfield ein. Bis zum Herbst sollen dort 1.700 Personen, und zwar erwachsene Männer, untergebracht werden, was die frühere Basis der Royal Air Force (RAF) in der Nähe von Braintree, so BBC, „zur größen Asyl-Unterbringungseinrichtung des Vereinigten Königreichs machen würde“. Nach Angaben des Innenministeriums hatten die 46 Personen den Ärmelkanal in Schlauchbooten passiert und wurden nach einer Erstunterbringung in Kent nach Wethersfield gebracht.

Die für die Unterbringung von Asylsuchenden zuständige Direktorin des Innenministeriums, Cheryl Avery, erklärte gegenüber BBC, die Menschen würden zunächst biometrischen und gesundheitlichen Tests unterzogen; die Unterbringungsdauer betrage bis zu neun Monaten. Die Einrichtung werde von einem privaten Auftragnehmer betrieben und es bestehe rund um die Uhr eine Kameraüberwachung. In der Unterkunft gäbe es Zugang zu ärzlicher Versorgung sowie Gebet-, Sport- und Fitnesseinrichtungen. Antirassistische Initiativen wiesen auf die abseitige Lage und den maroden Zustand der Anlage hin und warnten davor, der militärisch geprägte Ort könne Retraumatisierungen hervorrufen. Zugleich steht die Massenunterkunft im Fokus migrantenfeindlicher Proteste.

Erklärtes Ziel der Regierung ist eine Kapazität von zunächst 3.000 Unterbringungsplätzen bis zum Herbst. Neben Wethersfield ist ein weitere früherer RAF-Stützpunkt in Scampton (Grafschaft Lincolnshire) vorgesehen, der eine Kapazität von 2.000 Plätzen haben soll, bislang jedoch nicht genutzt werden kann. BBC meldete unter Berufung auf lokale Akteure, dass die Anlage frühestens im Oktober 2023 belegt werden könne. Als Grund werden noch nicht abgeschlossene Arbeiten an Gebäuden genannt.

Währenddessen wurden Pläne bekannt, 2.000 Asylsuchende in Zelten unterzubringen. Vermutlich sollen diese ebenfalls auf ehemaligen Militärarealen aufgestellt werden, allerdings ist unbekannt, wo genau. Das Innenministerium habe die Zelte bereits beschafft und sehe darin eine Notmaßnahme angesichts der zu erwartenden starken Zunahme der Bootspassagen im August. Dieser Anstieg ist nach den Erfahrungen der Vorjahre voraussehbar, so entfiel 2022 etwas mehr als die Hälfte der Bootspassagen auf die Monate August bis Oktober. Eine Notunterbringung in Zelten sei, so BBC, im vergangenen Jahr noch verworfen worden. Offenbar erscheint sie nun jedoch als geeigetes Mittel, weil die bislang gängige Unterbringung in Hotels aus politischen Gründen reduziert wird.

Eine Sonderform der Massenunterkünfte ist das Schiff Bibby Stockholm, eine Art schwimmende Plattform mit einem mehrgeschossigen Wohnkomplex, in dem bislang teils Arbeiter_innen maritimer Baustellen, teils Asylsuchende (so in Hamburg) und Abschiebehäftlinge (so in Rotterdam) untergebracht waren. Das Schiff befindet sich seit dem 17. Juli im Hafen der südenglischen Stadt Portland, nachdem es zuvor in Falmouth instandgesetzt worden war. Zahlreiche antirasstische Protestaktionen begleiteten den Antransport des Schiffs und hoben seine repressive Funktion hervor.

Wenige Tage nach der Ankunft in Portland konnten Medienvertreter_innen das Schiff besichtigen. Was die Journalist_innen sahen und erfuhren, entsprach recht genau dem, was im Vorfeld bereits bekannt geworden war (siehe ausführlich hier): Die Kapazität der 222, ursprünglich für je eine Person ausgelegten, Schlafräume war mithilfe von Etagenbetten mehr als verdoppelt worden. Die meisten Räume waren als Zweibettzimmer angelegt, andere mit einer größeren Bettenzahl bestückt (letztere blieben den Journalist_innen verschlossen). Insgesamt soll das Schiff 506 Personen aufnehmen. Es verfügt über Kantine, Gebets- und Gemeinschaftsräume sowie Sport- und Freizeitmöglichkeiten, welche teils in den beiden tristen Innenhöfen absolviert werden können. Auf dem Hafengelände gestatte ein umzäuntes Areal weitere Bewegung im Freien. Über stündliche Busverbindungen seien tagsüber und abends die Städte Portland und Weymouth erreichbar. Eine Sperrstunde gebe es nicht, allerdings würden Bewohner_innen bei Fernbleiben mit einem sogenannten welfare call kontaktiert. Die Anlage werde rund um die Uhr videoüberwacht.

Alles in allem zog BBC das Fazit: „Die Regierung will natürlich zeigen, dass diese Unterkunft nicht grausam oder unmenschlich ist – aber das Innenministerium hat sie immer als ‚einfach und funktionell‘ bezeichnet. […] Einige der Journalisten […] waren der Meinung, dass der Standard besser ist als in einigen der Hotels, in denen derzeit Asylbewerber untergebracht sind. Allerdings dauerte unser Aufenthalt nur eine Stunde. Einige Männer können neun Monate an Bord bleiben. Und wenn die Unterkunft erst einmal voll belegt ist, könnten die Bedingungen ganz anders aussehen.“ Die ersten 50 Personen sollen am 1. August 2023 auf die Bibby Stockholm gebracht werden.