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Ein Tweet vom G7-Gipfel

Der Kampf gegen die Lieferketten der small boats soll internationaler werden. Innenminister Retailleau spricht beiläufig von den tödlichen Konsequenzen.

Ein Tweet des französischen Innenministers Bruno Retailleau rief Anfang Oktober 2024 empörte Reaktionen hervor. Der Minister räumte darin einen Zusammenhang zwischen dem verstärkten Überwachungsdruck und dem Anstieg der Todesfälle an der Kanalküste ein, so als seien die Toten der „price to pay“ (Utopia 56) für eine erfolgreiche Bekämpfung der irregulären Migration. Aber Retailleaus Tweet ist noch in anderer Hinsicht aufschlussreich, denn er spiegelt eine Internationalisierung des migrationspolitischen Ansatzes, der diese tödliche Dynamik verstärkt. Neben bestehende Formen grenzübergreifender Zusammenarbeit wie die Calais Group, Frontex und das Europol-Programm EMPACT tritt nun ein Aktionsplan der G7-Staaten. Schauen wir uns dies genauer an.

Retailleaus Tweet im Kontext

Bruno Retailleau postete das inzwischen gelöschte Statement am 3. Oktober 2024 während einer dreitägigen Innenminister_innen-Konferenz der G7-Staaten im italienischen Mirabella Eclano. Anlass für den Tweet war ein Gespräch mit seiner britischen Amtskollegin Yvette Cooper.

Tweet von Bruno Retailleau, 3. Oktober 2024. (Quelle: X; Screenshot: Calais Border Monitoring)

Der vollständige Text des Tweets lautet:

Ich traf mich während des G7-Gipfels mit meiner britischen Amtskollegin, Frau Yvette Cooper. / Frau Cooper lobte den heroischen Einsatz der Polizeikräfte bei der Verhinderung von Überfahrten nach Großbritannien. / Wir teilten auch die Feststellung, dass diese Effizienz schädliche Folgen hatte, mit einem Anstieg der Todesfälle und der Gewalt unter Migranten und gegenüber den Ordnungskräften. / Nachdem wir Frau Cooper eingeladen hatten, nach Nordfrankreich zu kommen, um ihr die durch das Sandhurst-Abkommen finanzierten Maßnahmen vorzustellen, vereinbarten wir, den europäischen Partnern der Calais-Gruppe (NL, BE, DE, FR und UK), die um Irland erweitert wurde, ein baldiges Treffen vorzuschlagen, um sowohl langfristige als auch kurzfristige Überlegungen darüber anzustellen, wie eine künftige Migrationsbeziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich aussehen könnte.

Retailleau ging es also einerseits darum, die Einladung seiner britischen Kollegin nach Nordfrankreich bekannt zu geben. Andererseits mahnte er eine Neujustirerung der britisch-französischen Migrationspolitik an und benannte drei Ebenen, die dafür aus seiner Sicht relevant sind:

  • Erstens ist dies natürlich die bilaterale Zusammenarbeit auf Basis des Sandhurst-Abkommens. Dieses Abkommen aktualisierte 2018 mit Blick auf den Brexit mehrere ältere Vereinbarungen, die eine vorgelagerte britische Grenzkontrolle an der französischen Kanalküste ermöglichten und die Finanzierung durch Großbritannien regelten. Das Abkommen ist weiterhin in Kraft und bildet die Grundlage für die massive Aufstockung der Küstenüberwachung in Nordfrankreich.
  • Zweitens betonten Retailleau und Cooper die multilaterale Zusammenarbeit mit Belgien, den Niederlanden und Deutschland im Rahmen der Calais Group. Die Gruppe besteht seit 2021; sie dient der Bekämpfung der Sekundärmigration nach Großbritannien und der Bekämpfung der Infrastrukturen und Lieferketten von Schleuser_innen. In seinem Tweet kündigte Retailleau eine Erweiterung der Gruppe um Irland an.
  • Drittens war die Bekämpfung kommerzieller Schleusungen ein Schwerpunkt des G7-Treffens, bei dem Retailleau mit Cooper zusammentraf und von wo aus er seinen Tweet postete.

Seit seinem Regierungsantritt verfolgt das Kabinett Starmer den Ansatz, die irrguläre Migration vor allem durch stärkeren Druck auf kommerzielle Schleuser_innen, ihre Infrastrukturen und Lieferketten sowie ihre Finanzströme und Social media-Kanäle zu verringern. Wie ihre Planung für Unterbringungskapazitäten erkennen lässt, richtet sich die Regierung jedoch darauf ein, dass die Zahl der Bootsmigrant_innen in den kommenden Jahren ungefähr auf dem heutigen Niveau stagniert. Im Fokus ihres Ansatzes stehen als greifbarste Objekte die Boote, Bootsmotoren und sonstiges Bootsequipment, auch weil diese über mehrere Zwischenstationen an die Kanalküste transportiert werden müssen. Dieser Ansatz ist nicht neu, wird aber mit immer größeren personellen, administrativen, technologischen und finanziellen Ressourcen hinterlegt.

Statt das Geschäftsmodell der Schleuser_innen auszutrocknen, wie es die konservativen Vorgängerregierungen versprachen, hat der Ansatz eine Pattsituation zwischen Ordnungskräften und Schleusungsnetzwerken geschaffen, der für die betroffenen Menschen ein größeres und mitunter tödliches Risiko bedeutet: Denn die Bekämpfung der Lieferketten und Zwischenlager geht zwar mit greifbaren Ermittlungsfolgen einher, führt aber zu einer noch stärkeren Überladung der ohnehin unsicheren Boote, während die massive Präsenz der Ordnungskräfte an den Stränden überhastete Ablegemanöver bewirkt, bei denen die Boote häufig nicht ausreichend aufgepumpt und stabilisiert werden. Ein Großteil der aktuellen Todesfälle hat hiermit zu tun. Aus Retailleaus Statement geht hervor, dass dieser Zusammenhang wohl auch Gegenstand der Diskussion mit seiner britschen Amtskollegin war.

Aktionsplan der G7-Staaten gegen Schleusungen

Als eine ihrer ersten Maßnahmen schuf die neue britische Regierung das Border Security Coommand. Es bündelt Kapazitäten von Polizeibehörden, Nachrichtendiensten und Staatsanwaltschaften und soll in Zukunft auch befugt sein, Methoden der Terrorismusbekämpfung gegen Schleuser_innen anzuwenden, die der Organisiserten Kriminalität zugerechnet werden (siehe hier). Dieser Ansatz erfordert eine transnationale Zusammenarbeit, für die Premier Starmer seit seinem Amtsantritt wirbt. Eine solche Form der Zusammenarbeit ist der G7 Action Plan to Prevent and Counter the Smuggling of Migrants, auf den sich die Innenminister_innen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Italiens, der USA, Kanadas und Japans am 4. Oktober verständigten.

Im Mittelpunkt des Plans stehen die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungs-, Einwanderungs- und Grenzkontrollbehörde der G7-Staaten, aber auch mit Herkunfts- und Transitländern und internationalen Organisationen. Angestrebt werden konkrete gemeinsame Aktionen gegen „transnationale kriminelle Organisationen, die an der Schleusung von Migranten und an Menschenhandel beteiligt sind“. Dabei soll auch auf das EMPACT-Programm der EU-Polizeibehörde Europol zurückgegriffen werden. Hinzu kommen Vorschläge zur Verbesserung des Grenzmanagements, zum Austausch von Verbindungsbeamt_innen, zu Abkommen mit Herkunftsstaaten, zur Zusammenarbeit mit Social Media-, Transport- und Verkehrsunternehmen, zum Abschöpfen von Gewinnen, zu Monitoring und Antizipation von Migrationsbewegungen und ähnliches mehr.

Obschon der Plan der G7 die Kanalroute nicht ausdrücklich benennt, passt er gut zum Ansatz der britischen Regierung. In einer Presseerklärung vom 4. Oktober hob das britische Innenministerium den Nutzen der G7-Vereinbarung für das Border Security Command hervor, das seinerseits „von entscheidender Bedeutung für die Umsetzung dieses Plans im Vereinigten Königreich“ sei. Die „neuen gemeinsamen Ermittlungsaktionen“ und „Strafverfolgungsteams“ sollen, so unterstrich das Ministerium, bei der „Unterbrechung der Lieferketten“ für Boote helfen.

Calais Group und Frontex

Denselben Ansatz verfolgt auch die Zusammenarbeit von Großbritannien, Frankreich, Belgien, Deutschland, den Niederlanden und in Zukunft offenbar auch Irland im Rahmen der Calais Group, einem jährlichen Treffen auf Ebene der Innenminister_innen im Beisein von Europäischer Kommission, Europol und Frontex. Die Calais Group bildet einen politischen Rahmen u.a. für gemeinsame Maßnahmen gegen die Lagerung und den Transport von Booten, Motoren und Zubehör, wozu auch Rettungswesten gezählt werden. Dies mündete bislang in zwei Großrazzien mit Schwerpunkt in Deutschland gegen eine irakisch-kurdische Schleuserorganisation (siehe hier und hier); gegen einen Teil der Verhafteten läuft momentan ein Strafprozess in Lille. Vorbereitet wurden diese sogenannten Aktiontage durch gemeinsame Ermittlungsgruppen (Operational Task Forces) innerhalb des EMPACT-Programms von Europol, auf das sich auch der neue Aktionsplan der G7 stützt.

Die Calais Group traf sich zuletzt am 4. März 2024, also noch zur Zeit der konservativen Regierung Sunak, in Brüssel. Eine gemeinsame Abschlusserklärung der Innenminister_innen beschreibt keine wesentlich neuen Ansätze, verweist aber einmal mehr auf die Unterbrechung der Lieferketten für Boote und die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern. Als einziges neues Handlungsfeld nennt die Erklärung eine bessere Zusammenarbeit der Zollbehörden, nachdem Großbritannien und Frankreich bereits am 1. Februar 2024 eine Partnerschaft in Zollfragen geschlossen hatten. Auch hiervon erwartete die Calais Group eine „verstärkte Unterbrechnung der Lieferketten für small boats“.

Darüber hinaus nahm die Calais Goup ein Arbeitsabkommen zwischen der britischen Border Force und Frontex vom 23. Februar 2024 zur Kenntnis. Das Abkommen regelt u.a. den Austausch von Erkenntnissen und Lagebildern im Rahmen des EU-Grenzüberwachungssystems EUROSUR, den Austausch von Verbindungsbeamt_innen und den Aufbau gemeinsamer technischer und operativer Kapazitäten. Auch dieses Abkommen stammt noch aus der Amtszeit Sunaks und es dokumentiert das Bemühen der Tory-Regierung um eine stärkere europäischen Einbettung ihrer Grenzüberwachung nach den politischen Verwerfungen durch den Brexit, während sich die öffentliche Aufmerksamkeit zu dieser Zeit auf das kaum mehr umsetzbare Ruanda-Programm der politisch bereits angeschlagenen Partei richtete.

Es wird sich zeigen, wie sich die Calais Group mit den beiden neuen Regierungen in London und Paris in Zukunft aufstellen wird. Zu erwarten ist, dass vor allem London ihr eine höhere Bedeutung zumessen wird, worauf die Einbeziehung Irlands bereits hindeutet. Sehr deutlich ist aber bereits jetzt, dass die Verknappung der Boote, nicht aber ihrer Passagier_innen, die Situation auf der Kanalroute in den kommenden Jahren prägen wird. Retailleaus Tweet vom G7-Gipfel ist Ausdruck einer migrationspolitischen Haltung, die den Tod zwar bedauert, ihn aber im Grunde bereits eingepreist hat.