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Corona Solidarität

Das Virus und die Behinderung humanitärer Arbeit

Die Versorgung der Geflüchteten und ihrer Camps in Nordfrankreich hängt wesentlich von zivilgesellschlichen Vereinigungen ab, deren Arbeit seit vielen Jahren immer wieder von Polizeibehörden eingeschränkt und behindert wird. Dies ist auch während der Coronakrise der Fall, und mehr noch: Die Schutzmaßnahmen vor der Ausbreitung der Seuche werden offenbar dazu genutzt, die Arbeit der Organisationen und damit die Grundversorgung der Geflüchteten zu erschweren und zu kriminalisieren. Zwei der wichtigsten Vereinigungen, Auberge des Migrants und Utopia 56, haben sich am 8. April an die Presse gewandt. Gleichzeitig kündigten sie an, ihre Arbeit ungeachtet der bereits verhängten und künftig erwarteten Sanktionen fortzuführen.

Wie die beiden Organisationen in ihrer gemeinsamen Erklärung mitteilen, wandte die Präfektur das confinement – das am 16. März in Frankreich verhängte Ausgehverbot (außer Wegen zur Arbeit oder für wichtige Besorgungen wie Einkäufen, Arztbesuche usw. – auf mehreren Ebenen an, um die humanitäre Arbeit zu erschweren. So sei die Tätigkeit „ohne rechtliche Grundlage“ für die Zeit zwischen 20 Uhr abends und 8:30 Uhr morgens verboten sowie für bestimmte Plätze untersagt worden. Diese beiden Einschränkungen treffen vor allem die mobilen Teams freiwilliger Helfer_innen und Aktivist_innen, die die verschiedenen Treffpunkte, Camps und Aufenthaltsorte der obdachlosen Migrant_innen regelmäßig während der Tages- und Abendstunden anfahren, dort Mahlzeiten, Zelte, Decken usw. anbieten und Zugang zu Informationen und WLAN bieten. Gleichzeitig erhalten sie bei den maraudes genannten Fahrten einen Überblick über die aktuelle Situation und den konkreten Bedarf an humanitärer Hilfe. Auf diese Weise würden, so die beiden Vereinigungen, „No-Go-Zonen“ geschaffen, „in denen humanitäre Maßnahmen nicht notwendig wären“, und zwar obwohl es dort Menschen gebe, die diese Hilfe benötigten.

Zwischen dem 19. März und dem 8. April wurden die genannten Hilfeleistungen mit 18 Geldbußen aufgrund von Verstößen gegen das confinement belegt. Eine von Utopia 56 vorgelegte Liste zeigt, dass 15 dieser Strafen erst im April verhängt wurden, darunter allein sechs am 6. April – was auf eine Verschärfung der Gangart schließen lässt. Die meisten Sanktionen richteten sich gegen Utopia 56, und zwar 13 mal gegen die Fahrten der mobilen Teams und zweimal gegen die Beobachtung der Menschenrechtslage. Auberge des Migrants war dreimal betroffen.

Liste der gegen Auberge des Migrants und Utopia 56 während der Corona-Pandemie verhängten Geldbußen. (Quelle: Utopia 56)

In dem meisten Fällen begründete die Polizei die Sanktionen damit dass die attestation de déplacement dérogatoire ungültig sei oder fehlerhafte Angaben enthalte. Dabei handelt es sich um den „Passierschein“ bzw. die Bescheinigung, die jede_r in Frankreich, der das Haus oder Wohnung verlässt, mitführen muss und in der angegeben werden muss, warum er/sie unterwegs ist und wohin er/sie geht – mit Datum und Uhrzeit. In anderen Fällen verwies die Polizei auf fehlende Genehmigung der Fahrten sowie der menschenrechtspolitischen Beobachtung durch die Präfektur sowie unspezifisch auf Nichtbeachtung des confinement. „Alle Vereinigungen, die noch mit Exilierten arbeiten, wissen, wie man Verantwortung übernimmt und die von der Regierung empfohlenen Schutmaßnahmen respektiert, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen.“

Bereits einige Tage zuvor hatte die Initiative Human Rights Observers, die mit Auberge des Migrants und Utopia 56 zusammenarbeitet, über Behinderungen ihrer Arbeit berichtet (siehe hier). Vor allem aber hatte die Gruppe dokumentiert, dass die seit Jahren üblichen und bei Jahresbeginn intensivierten Vertreibungen der obdachlosen Migrant_innen aus ihren Camps und Schlafplätzen durch die Polizei auch während der Pandemie und des confinement nahezu ungebrochen weiterliefen und damit die Gefahr einer Infektion (durch vermeidbare Menschenansammlungen und die Verstetigung risikobehafteter Lebensumstände) indirekt noch erhöhten (siehe hier). Bei diesen Räumungen handelt es sich nicht um Evakuierungsmaßnahen zum Schutz gegen die Corona-Infektion, sondern um Vertreibungen in erneute Obdachlosigkeit; meist wird das geräumte Camp nach dem Abzug der Polizei unmittelbar wieder besiedelt. Hatten die Human Rights Observers von 45 solchen Räumungen zwischen dem Inkrafttreten des confinement am 17. März und dem 31. März gesprochen, gehen Auberge des Migrants und Utopia 56 für den Zeitraum vom 17. März bis 4. April nunmehr von 54 Räumungen aus.

Behinderungen humanitärer und solidarischer Arbeit haben in Calais eine lange Vorgeschichte; sie spiegeln ein Kräftespiel zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und staatlichen bzw. kommunalen Institutionen um die Geltung menschenrechtlicher Normen in einer faktisch bereits seit zwei Jahrzenten geltenden unerklärten Ausnahmezustand. Auberge des Migrants und andere Vereinigungen haben wiederholt gegen Einschränkungen ihrer Arbeit sowie gegen Menschenrechtsverletzungen an Exilierten geklagt und beispielsweise 2017 vor dem obersten französischen Gericht Recht bekommen; die Richter hatten damals die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit der humanitären Arbeit bestätigt und die Behörden verpflichtet, Zugang zu Grundversorgungsleistungen zu gewähren (was dann jedoch nur halbherzig und mangelhaft geschah). In den damaligen Konflikten waren räumliche und zeitliche Beschränkungen der Hilfeleistungen, wie in der Presseerklärung der beiden Organisationen beschrieben, bereits ein zentraler Hebel der Präfektur gewesen.

„Wir haben uns entschieden“, erklären sie nun, „unsere Aktivitäten aus Pflichtbewusstsein und aus Respekt vor der Würde der Obdachlosen, die unsere Hilfe mehr denn je benötigen, fortzusetzen. Wir werden daher präsent bleiben, jeden Tag an der Seite der Exilierten, und werden unsere Unterstützung so gut wie möglich organisieren.“ Unter Verweis auf ministerielle Anweisung an die Präfekturen vom 27. März fordern sie zugleich Innenminister Castaner auf, das Vorgehen des Präfekten des Pas-de-Calais Fabein Sudry zu stoppen. In der Anweisung heiße es ausdrücklich, der gesundheitliche Notstand dürfe „nicht dazu führen, dass sich die Lebensbedingungen der prekärsten Bevölkerungsgruppen verschlechtern. Die Maßnahmen zur Berkämpfung der Prekarität müssen im Hinblick auf den Zugang zu Rechten, zur Gesundheitsversorgung und zu den Grundbedürfnissen fortgesetzt werden können.“

Dabei sind nicht alle in Calais tätigen Organisationen gleichermaßen von Schikanen betroffen. Wie die britische, in Calais tätige Care4Calais heute auf Anfrage mitteilte, sei dies bei ihr nicht der Fall. Möglicherweise stellt also die von Auberge des Migrants, Utopia 56 und einer Reihe weiterer dort assiziierter Initiativen vertretene Ansatz, humanitäre Arbeit mit politischen bzw. juristischen Interventionen zu verknüpfen, besonders im Fokus der Präfektur.

Im Folgenden dokumentieren wir die Presseerklärung in provisorischer Übersetzung:

Utopia 56 und Auberge des Migrants sind entschlossen, ihre humanitäre Arbeit trotz Geldstrafen fortzusetzen

Während der Präfekt des Pas-de-Calais beabsichtigt, die Handlungsfreiheit von Vereinigungen, die Exilanten in der Region Calais helfen, aufgrund des confinement einzuschränken, kündigen Utopia 56 und Auberge des Migrants ihre Bereitschaft an, ihre Aktivitäten trotz der Geldbußen, die ihre Freiwilligen seit mehreren Tagen an den Orten der Exilierten erhalten.

Während das Staatsoberhaupt zur Solidarität aufruft und den Präfekten am 27. März 2020 eine ministerielle Anweisung übermittelt, in der es heißt: „Der gesundheitliche Notstand darf nicht dazu führen, dass sich die Lebensbedingungen der prekärsten Bevölkerungsgruppen verschlechtern. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Prekarität müssen im Hinblick auf den Zugang zu Rechten, zur Gesundheitsversorgung und zu den Grundbedürfnissen fortgesetzt werden können“, hat die Präfektur Pas-de-Calais entgegen diesen Anweisungen Maßnahmen angekündigt, die für Vereinigungen, die Exilierten und Obdachlosen in der Region von Calais helfen, unangemessen restriktiv und repressiv sind.

Ohne rechtliche Grundlage hat die Präfektur Pas-de-Calais den Vereinigungen mehrere strenge Einschränkungen bei der Ausübung ihrer Arbeit angekündigt, beginnend mit einer Ausgangssperre, die es ihnen verbietet, zwischen 20 Uhr abends und 8:30 Uhr einzugreifen. Die Vereinigungen sehen ihren Handlungsspielraum auch auf bestimmte, von der Präfektur vorgegebene Orte beschränkt, die nicht alle Plätze umfassen, an denen sie üblicherweise arbeiten oder an denen sich Obdachlose aufhalten.

Mit dieser Maßnahme versucht der Präfekt, „No-Go-Zonen“ einzurichten, in denen humanitäre Maßnahmen nicht erforderlich seien, obwohl es dort Menschen gibt, die das Eingreifen der Vereinigungen benötigen.

Vereinigungen zur Beobachtung der Einhaltung der Menschenrechte wie z. B. die Human Rights Observers, die insbesondere bei Zwangsvertreibungen aus informellen Siedlungen intervenieren, dürfen dies nicht mehr tun, was uns daran hindert, diese feindseligen und gewalttätigen Operationen zu dokumentieren. Zwischen dem 17. März (Beginn des confinement) und dem 4. April 2020 fanden 54 dieser Räumungen statt.

Aufgrund ihrer Verpflichtung zum Handeln, um die Defizite des Staates bei der Betreuung der Menschen auf der Straße auszugleichen, wurden bereits mehrere Vereinigungen aufgrund dieser übertriebenen und unangemessenen Anordnungen des Präfekten Fabien Sudry zu einer Geldbuße verurteilt und laufen Gefahr, erneut bestraft zu werden. Wir haben uns entschieden, unsere Aktivitäten aus Pflichtbewusstsein und aus Respekt vor der Würde der Obdachlosen, die unsere Hilfe mehr denn je benötigen, fortzusetzen. Wir werden daher präsent bleiben, jeden Tag an der Seite der Exilierten, und werden unsere Unterstützung so gut wie möglich organisieren.

Bisher wurden die Freiwilligen unserer Vereinigungen im Rahmen ihrer humanitären Mission und ihrer allabendlich in der Stadt Calais und ihrer Umgebung mobil arbeitenden Informations-, Orientierungs-, Ausstattungs- (Zelte, Bettdecken usw. ) und Verpflegungsaktivitäten (Mahlzeiten, Wasser) zwischen dem 19. März und dem 8. April mit 18 Geldbußen belegt. Diese Verwarnungen hängen vom Goodwill der angetroffenen Polizeikräfte ab und werden mit der Nichteinhaltung des confinement und der Ungültigkeit und Unstimmigkeiten der Ausgangsbescheinigungen begründet.

Alle Vereinigungen, die noch mit Exilanten arbeiten, wissen, wie man Verantwortung übernimmt und die von der Regierung empfohlenen Abschiemungsmaßnahmen respektiert, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen.

In einer Zeit, in der alle offiziellen Botschaften die notwendige Solidarität betonen und humanitäre Vereinigungen ermutigen, bedauern wir diese Behinderung unserer Arbeit und kündigen trotz der Geldstrafen die Fortsetzung unserer Aktivitäten dort an, wo die Schwächsten uns brauchen.

Wir bitten auch darum, dass das Innenministerium bei seinem Präfekten interveniert, um sicherzustellen, dass die Anweisungen des Präsidenten und des Ministeriums auch in der Gegend von Calais gelten. Außerdem bitten das Innenministerium, die gegen unsere Freiwilligen verhängten Geldstrafen aufzuheben. Wir weisen darauf hin, dass wie dem UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, das Recht auf Nahrung, das Recht auf angemessene Unterkunft, die Situation von Menschenrechtsverteidigern, die Rechte von Migranten, das Recht auf Wasser und sanitäre Einrichtungen sowie das Recht auf Gesundheit, eine Liste dieser Behinderungen unseres Handelns zur Verfügung gestellt haben.