Der Jungle von Calais ist in den vergangenen Tagen verstärkt zum Objekt polizeilicher Räumungen und Gegenstand rechter Mobilisierung geworden. Dabei überschneiden sich mehrere zeitlich parallel verlaufende Entwicklungen: Zum einen betreffen sie die polizeilichen Räumungen und die Anwendung des Confinement (also der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in Frankreich) auf die Migrant_innen. Zum anderen geht es um die Mobilisierung französischer Anwohner_innen gegen den Jungle, die nun verstärkt von konservativen und rechtsextremen Akteuren aufgegriffen und auf nationaler Ebene zur Sprache gebracht wird.
Räumungen des Jungle sind alltäglich und dienen in der Regel dazu, die physische Verfestigung der Camps zu verhindern und keinen rechtlichen Anspruch der Bewohner_innen auf Bestandsschutz entstehen zu lassen (siehe aktuell hier). Die Zeltcamps, aus denen sich der Jungle heute zusammensetzt, entstehen danach meist an gleicher Stelle wieder, um kurz darauf erneut geräumt zu werden. Andere Räumungen hingegen basieren auf gerichtlichen Räumungstiteln, die zuvor von Grundstückseigentümer_innen erwirkt wurden, und sind häufig mit der dauerhaften Verschließung des geräumten Geländes verbunden, sodass das frühere Camp danach nur an anderer Stelle neu entstehen kann. Eine dritte Form der Räumung entstand im Kontext der Corona-Pandemie und zielt auf die zwangsweise Überführung der Bewohner_innen in Einrichtungen zur Durchführung des Confinement. Diese Form der Räumung wurde erstmals Mitte April in Grande-Synthe dokumentiert. In Calais hingegen fanden – parallel zu den fortdauernden Räumungen der erstgenannten Kategorie – bislang lediglich Evakuierungen und Unterbringungen auf freiwilliger Grundlage statt (zur begriffliche Abgrenzung von Räumung, Evakuierung und Auflösung, siehe hier).
Dies scheint sich nun zu verändern. Der Regionalzeitung La Voix du Nord zufolge räumte die Polizei am 12. Mai 2020 einen zwischen der Route de Gravelines und der Rue des Oyats gelegenen Bereich des Jungle, nachdem die Grundstückseigentümer – eine Privatperson und eine Immobilienfirma – in einem Eilverfahren einen Räumungstitel erwirkt hatten. Das Gebiet wurde wie ein großer Teil des Jungle bereits um die Jahreswende 2019/20 mit starken Zäunen umgeben, die eine dauerhafte Abschließung ermöglichen. Im Zuge dieser Räumung wurden nach Angaben der Präfektur außerdem 83 Migrant_innen, verteilt auf sechs Busse, in verschiedene Einrichtungen im Department Pas-de-Calais gebracht. Weitere zwölf Personen seien festgenommen worden, um sie in Abschiebehaft zu nehmen. Etwa 170 Zelte wurden zerstört.
Eine Beobachterin vor Ort teilte uns mit, dass die Zeit der freiwilligen Evakuierungen in Calais nun möglicherweise zu Ende sei und gewaltsame Räumungen zur Umsetzung des Confinement beginnen könnten. Allerdings sei es noch zu früh, um dies sicher beurteilen zu können.
Nach Informationen der Hilfsorganisation Care4Calais vom 13. Mai 2020 sind bereits einige der transferierten Personen wieder nach Calais zurückgekehrt. Gegenüber der Organisation seien weitere Räumungen angekündigt worden. Wegen der hohen Anzahl zerstörter Zelte müssten manche Migrant_innen nun völlig im Freien schlafen. Die Organisation wies außerdem darauf hin, dass die von ihr an die Geflüchteten verteilten Zelte oft nach Festivals gespendet würden, die aufgrund der Pandemie nun nicht mehr stattfinden können. Daher sei zu befürchten, dass es bald nicht mehr genug Zelte geben werde.
Unklar ist, ob und wie die Räumung im Zusammenhang mit einer politischen Mobilisierung gegen den Jungle steht. Einem Bericht von La Voix du Nord zufolge hatten etwa 40 Anwohner_innen der Route de Gravelines, die über eine Strecke von mehr als einem Kilometer am Jungle vorbeiführt und dessen Grenze bildet, einen Tag vor der Räumung bei der Unterpräfektur Calais und beim Ersten Stellvertreter der Bürgermeisterin, Emmanuel Agius, ihren Unmut über die aktuelle Situation kundgetan und erklärt, dass Probleme mit den Migrant_innen seit dem Beginn des Confinement zugenommen hätten. Unterstützt worden seien sie dabei von Marc de Fleurian, dem Spitzenkandidat des rechtsextremen Rassemblement National bei der Kommunalwahl im März.
Eine Zunahme der Probleme mag von der Sache her zutreffen, allerdings spiegelt sich darin wohl vor allem die viel prekärere Situation der Geflüchteten aufgrund der Corona-Einschränkungen (siehe hier und hier). Die in der Lokalpresse veröffentlichten Meldungen über Kriminalität und Konflikte im Umfeld des Jungle beziehen sich – abgesehen von den strukturell angelegten Spannungen zwischen den Bewohner_innen der Camps und der Polizeieinheit CRS – auf typische Armutsdelikte wie Diebstähle von Kleidung (die zeitweise gar nicht mehr ausgegeben wurde) und Brennholz (das für das Kochen der einzig noch verteilten Lebensmittel benötigt wird).
Seit Anfang Mai versuchen lokale Akteure verstärkt, die informell im Raum Calais lebenden Migrant_innen auch auf nationaler politischer Bühne zu problematisieren. Wie La Voix du Nord am 3. Mai berichtete, forderte die Calaiser Bürgermeisterin Natacha Bouchart in einem Schreiben an Abgeordnete und Senatoren die zwangsweise Evakuierung der Migrant_innen und die Schaffung zusätzlicher Unterkünften für diese. Diese Forderung richtete sie auch an den regionalen Abgeordnete Pierre-Henri Dumont, der wie sie der konservativen Partei Les Républicains angehört und bis 2017 Bürgermeister der Nachbargemeinde Marck war, wo sich in den vergangenen Jahren hin und wieder kleinere Camps gebildet hatten. Dumont versuchte daraufhin, Boucharts Forderung durch einen Änderungsantrag in den Gesetzentwurfes zur Verlängerung des coronabedingten Notstandes einzubringen, den die Sprecherin der Regierungspartei jedoch am 8. Mai mit dem knappen Statement zurückwies: „Abgelehnt. Die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, hat absolut nichts mit der Situation der Migranten zu tun.“ (zit. n. La Voix du Nord v.12.5.2020).
Dumont beschwor in seiner Erwiderung das Bild eines einzelnen infizierten Migranten, der durch Busfahren und Einkaufen „die gesamte Bevölkerung“ anstecke, und erklärte, man müsse nun „auf den Tisch hauen“: „Ich bin der Meinung, dass wir einen Bruchpunkt mit der Regierung erreicht haben. Die Bürgermeisterin von Calais gedenkt auch nicht, alles geschehen zu lassen. Müssen wir vielleicht demnächst die Regierung vor Gericht bringen, um Gehör zu finden?“
Am heutigen 14. Mai soll nun Laurent Nunez, Staatssekretär des Innenministers, zum Thema ‚illegale Migration‘ nach Calais und Coquelles (u.a. Standort eines Haftzentrum für Migrant_innen) reisen. Vorgesehen sind der Presse zufolge Gespräche mit Bürgermeisterin Bouchart und einer vom Staat mit Hilfen für die Migrant_innen beauftragte Organisation (wohl La vie active). Außerdem werde er das französisch-britische Informations- und Koordinationszentrum CCIC besuchen. Das Zentrum dient der Zusammenarbeit der Grenz- und Polizeibehörden beider Staaten bei der Bekämpfung der kanalübergreifenden Migration.
Es ist zu erwarten dass es dort auch darum gehen wird, wie die kontinuierlich zunehmenden Querungen des Kanals in Booten (siehe hier) begegnet werden soll.
Aktualisierung 16.05.2020:
Wie geplant, kam Laurent Nunez am Mai 2020 nach Calais. La Voix du Nord berichtete sowohl über seinen Besuch in Calais als auch über seine Gespräche mit den Anwohner_innen der Route de Gravelines. Ziele in Calais waren u.a. eine Polizeistation und das Internierungsgefängnis für illegalisierte Migrant_innen in Coquelles. Des weiteren informierte er sich über die zunehmenden Bootspassagen und besuchte den Strand von Salines in Oye-Plage, der als einer der Ausgangspunkte hierfür gilt. Die Gespräche mit der Bürgermeisterin Bouchart und Anwohner_innen der Route de Gravelines verliefen jedoch nicht zu deren Zufriedenheit. Der Zeitung zufolge erteilte er dem Wunsch einer zwangsweisen Räumung wegen Confinement eine Absage, denn es sei „eine Maßnahme, die Freiheiten entzieht, was die französische Verfassung nicht zulässt.“ (zit. n. La Voix du Nord v.15.5.2020). Bouchart sei ihr Missfallen hierüber deutlich anzusehen gewesen. Nunez bekräftigte jedoch, dass die täglichen Räumungen weitergeführt würden.