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Channel crossings & UK

Schon so viele Bootspassagen wie 2019

Erwartungsgemäß ist die Zahl der Channel crossings, also der klandestinen Überquerungen des Ärmelkanals in Booten, weiter gestiegen. Hatten 2019 im Verauf des gesamten Jahres 1.892 Migrant_innen die Meerenge auf diese Weise passiert, so wird diese Zahl nun bereits in der ersten Jahreshälfte überschritten. Die Etablierung dieser innereuropäischen maritimen Migrationsroute, die seit knapp zwei Jahren intensiver genutzt wird, setzt sich also fort. Sollte der Trend andauern, so dürften bis zum Jahresende rund 4.000 Menschen auf Booten nach Großbritannien eingereist sein, und zwar mit einer hohen Erfolgsaussicht sowohl hinsichtlich des Gelingens der Passage als auch einer Verstetigung des Aufenthalts im Vereinigten Königreich.

Betrachten wir zunächst die quantitative Entwicklung seit Anfang Mai: Wie die BBC am 4. Mai meldete, hatten innerhalb von 24 Stunden mehr als 130 Migrant_innen versucht, per Boot nach Großbritannien zu gelangen. „Mehr als 1000 Personen haben das Vereinigte Königreich in diesem Jahr bereits per Boot erreicht“, hieß es weiter. Kurz darauf meldete der Sender einen „Tagesrekord“ von 145 Personen am 8. Mai bzw. 227 Personen an diesem und dem folgenden Tag (siehe auch hier).

Im weiteren Verlauf des Monats erreichten am 20. Mai 64 Menschen iranischer, irakischer, kuwaitischer, pakistanischer, syrischer, jemenitischer und afghanischer Nationalität in mehreren Booten die Insel. Die Bergung der 13 Passagiere eines dieser Boote wurde von Sky News von einem Fischerboot aus gefilmt. Die Filmaufnahmen zeigen ein mit Menschen beladenes Schlauchboot bei der Ankunft eines Schiffes der britischen Küstenwache, das die Geflüchteten an Bord nimmt und das Schlauchboot anschließend abschleppt. Ein Fischer erklärte dazu, dass solche Situationen inzwischen typisch seien und „immer häufiger an Tagen wie diesem geschehen, wenn das Wetter ruhig ist.“ (siehe auch das französische Portal InfoMigrants)

Tweet eines Videos des Senders Sky News über die Bergung eines Flüchtlingsbootes im Ärmelkanal. (Quelle: Sky News / https://twitter.com/i/status/1263397948035039233)

Weiterhin bestätigte das britische Home Office (Innenministerium) gegenüber Sky News den Aufgriff von 157 Personen am 22. Mai, von denen 57 nach Dover gebracht, aber 100 nach Frankreich zurückgeschoben wurden seien – offenbar, um angesichts der sonst hohen Erfolgaussichten eine abschreckende Wirkung zu erzeugen oder gegenüber der britischen Öffentlichkeit Handlungsmacht zu demonstrieren (siehe InfoMigrants).

Kurz darauf, am 26. Mai, wurden laut BBC weitere 80 Migrant_innen libyscher, marokkanischer, irakischer, syrischer, kuwaitischer, iranischer, afghanischer, eritreischer und sudanesischer Nationalität augfgegriffen und nach Dover bebracht. Ein Vertreter des Home Office teilte auch diesmal mit, einige würden dort festgehalten, „während andere nach Frankreich zurückgeschickt werden.“ Ob dies geschah, ist unklar.

Als am 3. Juni insgesamt 166 Migrant_innen Großbritannien per Boot erreichten, meldete die BBC dies als neuen Tagesrekord. Allein auf einem Boot hätten sich 64 Passagiere aus Iran, Irak, Kuwait und Afghanistan befunden; weitere Migrant_innen dieses Tages kamen aus Syrien, Jemen, Sudan und China. Nach der erfolgreichen Passage von weiteren 40 Menschen in drei Booten am 10. Juni nannte die BBC die Zahl von 1.480 Bootsflüchtlingen, die Großbritannien seit dem Beginn des Lockdown erreicht hätten, und ergänzte: „Die Gesamtzahl für 2020 beträgt nun mehr als 1.900“. Damit haben in den ersten fünfeinhalb Monaten dieses Jahres so viele Menschen die Insel auf Booten erreicht wie im gesamten Jahr 2019.

Danach erreichte 11. Juni eine unbekannte Zahl von Bootspassagieren Großbritannien, gefolgt von 49 Menschen in fünf Booten am 15. Juni, 45 Menschen in vier Booten trotz dichtem Nebel am 16. Juni und 42 Menschen in vier Booten am 17. Juni. Als Herkunftsländer wurden neben den bereits früher genannten Staaten Albanien, Tschad, Mali, Elfenbeinküste, Guinea, Südsudan und Türkei genannt.

Darüber hinaus wurden zwei Fälle bekannt, bei denen Geflüchtete besonders riskante Passagetechniken nutzten. So versuchten am 10. Juni vier Migranten, den Kanal auf einem selbstgebauten Floß zu überqueren, das aus zwei aneinander befestigten Surfbrettern bestand, wobei sie Schaufeln als Paddel benutzten. Allerdings wurde das Floß vor Calais von einer Kanalfähre gesichtet und seine Passagiere von der französischen Küstenwache gerettet. Eine weitere hochriskante Passage dürfte am 16. Juni geschehen zu sein, denn laut BBC handelte es sich bei einem der im dichten Nebel aufgegriffenen Boote anscheinend um ein Ruderboot.

Versuche, den Kanal auf unmotorisierten Schauchbooten, mit improvisierten Flößen oder am Körper angebrachten Schwimmkörpern zu überqueren, hat es in der Vergangenheit bereits mehrfach gegeben. Im Gegensatz zu den bislang relativ sicheren Passagen auf motorisierten (Schlauch-)booten verliefen sie in mehreren Fällen tödlich, zuletzt im Sommer und Hebst 2019 (siehe hier).

Im Zuge der beschriebenen Entwicklung verdoppelte sich auch die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Nach Angaben des Kent County Council (siehe BBC) im Südosten Englands, zu dem auch die Hafenregion Dover gehört, lag die Zahl unbegleiteter Minderjähriger im April des vergangenen Jahres bei 230 bis 250, im April 2020 hingegen bei knapp 470. Mehrere britische und französische Medien zitieren den Chef des Kent County Council mit der Vermutung, dass der Rückgang des Frachtverkehrs während des Lockdown zu einer Verlagerung des Migrationspfades dieser Gruppe vom Lastwagen zum Boot bewirkt habe (siehe InfoMigrants). Ob dies zutrifft, erscheint fraglich, denn quantititiv spiegelt die Verdopplung der Zahl der Minderjährigen den generellen Trend aller Bootspassagen, zumal legale Einreisemöglichkeiten für Minderjährige teils bereits beseitigt wurden, teils zur Disposition stehen (siehe hier und hier). Gleichwohl dürfte die Inanspruchnahme der maritimen Route gerade für allein reisende Jugendliche mit einer erheblichen Gefahr ökonomischer und/oder sexueller Ausbeutung einhergehen, um die von kommerziellen Anbietern verlangten Preise von 3000 € oder mehr für die Passage begleichen zu können.