Durch Recherchen der Zeitungen Guardian und Fiancial Times wurden in den vergangenen Tagen Details über Gedankenspiele und Testläufe eines radikalisierten britischen Grenzregimes bekannt. Diese unterscheiden sich grundlegend von den zwischenstaatlichen Regelungen und Routinen, die die seit den 1980er Jahren zwischen Großbritannien und Frankreich etabliert wurden. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen Pushbacks an der französisch-britischen Seegrenze in der Mitte des Ärmelkanals, die mögliche Errichtung einer schwimmenden Barriere und Offshore-Internierungen von Channel crossers nach australischem Vorbild. Nichts davon ist bisher Realität. Was aber deutlich wird, ist die Orientierung der Regierung Johnson und des Home Office (Innenministerium) an einigen der repressivsten Grenzregimen der Welt.
Bereits im Sommer gab es Äußerungen der britischen Innenministerin Priti Patel und des für Migration zuständigen Staatssekretärs Chris Philp, die auf – rechtlich nicht zulässige – Pushbacks auf See zielten. So erklärte letzterer einem BBC-Bericht zufolge Ende Juli: „We need stronger enforcement measures, including interceptions at sea and direct return of boats“ (siehe ausführlich hier). In diesem Zusammenhang fielen auch Äußerungen, rechtliche Hindernisse einer restiktiven Grenzpolitik identifizieren und wenn möglich beseitigen zu wollen. Die tatsächlich ergriffenen Maßnahmen zielten dann jedoch auf die Abschiebung einer möglichst großen Zahl von Channel migrants, die sich bereits auf dem britischen Festland und im britischen Asylverfahren befanden, nach Frankreich, Deutschland und Spanien (siehe hier und hier).
Recherchen des Guardian machten am 1. Oktober deutlich, dass die britische Regierung offenbar Vorbereitungen für künftige Pushbacks auf hoher See nach dem Vorbild der australischen turn back the boats-Politik trifft und hierbei auf den Einsatz einer schwimmenden Barriere in Betracht zieht. Eine derartige Anlage ist von der griechischen Regierung bereits für einen Abschnitt der türkisch-griechischen Ägäis nordöstlich von Lesbos geplant; ihr Bau wurde im Januar 2020 offiziell ausgeschreiben (vgl. Die Zeit, 30.6.2020).
Der Guardian bezieht sich auf offizielle, als vertraulich klassifizierte Dokumente von Mitte September. Diese fassen, so die Zeitung, Empfehlungen verschiedener Beamter u.a. des Außenministeriums zusammen, die vom Premierminister gebeten worden seien, “possible options for negotiating an offshore asylum processing facility similar to the Australian model in Papua New Guinea and Nauru” zu benennen.
Dies geschah offenbar vor dem Hintergrund einer im August beabsichtigten Zusammenarbeit mit Frankreich, um die Kanalroute durch Schiffe der (militärischen) Royal Navy und (zivilen) Border Force zu blockieren. Allerdings haben entsprechende Verhandlungen zwischen beiden Staaten mindestens seit dem Frühjahr nicht zu einer entsprechenden Vereinbarung geführt, wohl auch wegen französischer Bedenken hinsichtlich der Legalität britischer Forderungen.
Aus den nun auszugsweise veröffentlichten Dokumenten ergibt sich, dass britische Behörden eine physische Blockade der Kanalroute und damit auch Pushbacks auf See momentan erproben. So zitiert der Guardian: “Trials are currently under way to test a ‘blockade’ tactic in the Channel on the median line between French and UK waters, akin to the Australian ‘turn back’ tactic, whereby migrant boats would be physically prevented (most likely by one or more UK RHIBs [rigid hull inflatable boats; Schlauchboote mit festem Rumpf] from entering UK waters.” Als Material der Barriere wird hier übrigens der gleiche Bootstyp benannt, den auch die Migrant_innen zur Überfahrt nutzen.
Zu diesen Recherchen passt ein Bericht der Financial Times. Demnach wurden Unternehmen der maritimen Industrie im September um eine Stellungnahme zur Errichtung einer schwimmenden Mauer im Ärmelkanal gebeten. Die Anfrage erfolgte über den Branchenverband Maritime UK.
Eine von der Financial Times zitierte E-Mail von Maritime UK vom 17. September benennt in diesem Zusammenhang drei Akteure: Zum einen ist dies das Joint Security and Resilience Centre (JSaRC) mit Sitz in Cambridge, das zum Innenministerium gehört und dort dem Office for Security and Counter Terrorism zugeordnet ist. Das Zentrum stellt sich auf seiner Website als Kooperationsforum und Thinktank an der Schnittstelle der Sicherheitsbehörden zur akademischen Forschung sowie zu privaten Sicherheits-, Rüstungs- und Technologieunternehmen dar und benennt verschiedene Projekte und Studien u.a. zu Terrorismus, Kritischer Infrastruktur, Transport-, Cyber- und Grenzsicherheit. Als weitere Akteure werden die Grenzschutzbehörde Border Force und Dan O’Mahoney, der von Innenministerin Patel zur Koordination der Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung der Bootspassagen eingesetzte Clandestine Channel Threat Commander, genannt.
Aus der E-Mail vom 17. September geht konkret hervor, dass diese Akteure die Unternehmen der maritimen Industrie baten, Optionen wie „marine fencing and other water-based technologies“ zur Blockierung von Flüchtlingsbooten zu prüfen und bis zum 21. September entsprechende Ideen und Vorschläge vorzulegen. Die angestrebte Lösung solle langsame und mit Migrant_innen überladene Boote vollständig daran hindern können („fully prevent“), sich fortzubewegen. Sie solle ortsgenau („precise location“) einsetzbar sein und dürfte nicht versehentlich in französische Gewässer gelangen. Wegen des hohen Schiffsaufkommens im Ärmelkanal müsse die Anlage schnell platziert und wieder entfernt werden können (“rapidly deployable and rapidly removable”). Außerdem müsse sie “safe for those who come into contact with it” sowie für das eingesetzte Personal sein. Maritime UK habe in der Mail außerdem auf den heiklen Charakter der Angelegenheit hingewiesen und um Diskretion gebeten.
Nach dem Bekanntwerden der Mail ging Maritime UK auf Distanz, denn offenbar erschien dem Verband die Sache nicht geheuer: “The Home Office engaged us to pass on a question around options to inhibit passage to UK territorial waters, which we gave to our members. The clear view, which we shared with the Home Office, was that as a matter of international convention, that this is not legally possible,” zitiert der Guardian den Sprecher der Organisation.
Unterdessen erscheinen fast täglich neue Details und Spekulationen über die oben erwähnte Suche nach möglichen Standorten für ein Offshore-Internierungssystem nach australischem Vorbild. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass diese Informationen zunächst einmal nur einen bürokratischen Prozess irgendwo zwischen Brainstorming, Machbarkeitsstudie und rechtspopulistischer Positionierung bestimmter politischer Akteur_innen wiederspiegeln. So wurden Berichte über Aufnahmeeinrichtungen für Bootsflüchtlinge in einem früheren Gefängnis in Camp Hill auf der Isle of Weight, einem früheren U-Boot-Stützpunkt im südendlische Gosport, auf schottischen Inseln, auf den im Südatlantik gelegenen britischen Überseeterritorien Ascention Island oder St. Helena sowie auf angemieteten Fähren oder Ölbohrplattformen in der Nordsee rasch dementiert oder stark relativiert – ebenso wie der aufgrund einer Absurdität gern kolportierte Vorschlag, die Bootsmigrant_innen im Ärmelkanal mit Hilfe einer Wellenmaschine abzuwehren.
Dennoch zeichnen sich hier die Konturen einer möglichen Offshore-Politik ab. So wies der Guardian am 30. September auf die Rolle des Premierministes Boris Johnson als treibende Kraft solcher Vorschläge hin, auch wenn diese bei den Fachressorts (im Fall der beiden Südatlantik-Insel etwa beim Außenministerium) abgelehnt oder als unpraktikabel verworfen würden. Gleichwohl zeigten die internen Papiere, dass die Regierung über Wochen hinweg an detaillierten Plänen gearbeitet hat, die, so die Zeitung, Kostenschätzungen für den Bau von Asylhaftlagern auf den südatlantischen Inseln sowie weitere Vorschläge für den Bau solcher Einrichtungen in Moldawien, Marokko und Papua-Neuguinea enthielten. Diese Pläne gingen dabei noch über das australische Vorbild hinaus, denn während dieses Menschen betreffe, die außerhalb des australischen Hoheitsgewässers abgefangen würden, ziele die britische Regierung auf die Verbringung solcher Menschen in Offshore-Einrichtungen, die bereits im Land angekommen seien und damit unter dem Schutz des europäischen und internationalen Flüchtlingsrechts stünden.
All dies geschieht wenige Monate vor dem Ende der Brexit-Übergangsphase am 31. Dezember 2020. Dieser de-facto-Hard Brexit wird von der britischen Rechten als eine Art Befreiung von den Fesseln imaginiert, die der britischen Souveränität durch internationales Recht, symbolisiert durch die Europäischen Union, auferlegt seien. In diesem ideologischen Setting wird der (in der Brexit-Kampagne viel beschworenen) „Kontrolle über die Grenze“ und in der letzten Zeit insbesondere auch der Abwehr der Channel migrants eine Schlüsselrolle zugeschrieben. Da ein legales Pushback der Boote allerdings nicht möglich ist, rechtfertigt jede weitere Rekordzahl von Bootspassagen – aktuell etwa 7.000 gelungenen Passagen seit Jahresbeginn – innerhalb dieses Weltbildes einen Schritt weiter in die Extralegalität.
Wie weit das britische Grenzregime der Post-Brexit-Phase menschenrechtliche Standards und internationales Recht tatsächlich brechen wird, bleibt zunächst unklar. “We will be leaving no stone unturned. No decisions have been taken. No final proposals have been put to ministers or anybody else. This is in the realms of the brainstorming stage of a future proposal”, erklärte Matthew Rycroft seitens des Innenministeriums. Aber die Richtung ist markiert.
Ebenso zeichnet sich ab, wie sehr sich ein mögliches künftiges Grenzregime vom heutigen abheben wird, das auf die Kontrolle von Straßen, Eisenbahnen, Häfen und Stränden, also eine Kontrolle des Festlandes und nicht des Meeres, ausgelegt sind. Nicht zuletzt zeigt die Involvierung einer Institution wie des Joint Security and Resilience Centres, wie sehr die Channel migrants zum Gegenstand eines sicherheitsindustriellen Komplexes geworden sind, in dem staatliches Gewaltmonopol, zweckrationale Wissensproduktion und privatwirtschaftliche Wertschöpfung einander jenseits öffentlicher Kontrolle durchdringen.