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Calais

Neue Taktik und multiple Krise

Räumung in Calais (Foto: Care4Calais)

Die groß angelegte Räumung des Hospital Jungle am 29. September 2020 und die Verbringung von rund 650 Bewohner_innen an teils weit entfernte Orte (siehe hier, hier und hier) war der Auftakt mehrerer weiterer Räumungen – und einer veränderten Vorgehensweise der Behörden bei der Versorgung der Geflüchteten mit Lebensmitteln und Wasser. Hierin zeigt sich eine Neujustierung der Polizeitaktik durch den neuen Präfekten des Departements Pas-de-Calais, Louis Le Franc.

In den Tagen nach der Räumung kehrte ein großer Teil der betroffenen Migranten aus den Zielorten ihrer unfreiwilligen Reisen – der Weblog Passeurs d’hospitalités nennt u.a. Nizza, Toulouse, Marseille, Toulon, Nancy, Brest und Nantes – rasch wieder nach Calais zurück. Vielfach hätten sie sich, unmittelbar nachdem sie die Busse verlassen konnten, auf die Suche nach dem nächstgelegenen Bahnhof gemacht, manchmal ohne Gelegehneit zum Schlafen oder Essen und allenfalls unterstützt durch solidarische Hilfe aus der Ferne.

Im Calais setzten sich währenddessen die Räumungen im Bereich des Hospital Jungle fort. „The main place of life in Calais is evicted every day since the dismantling of 29/09. Another large-scale eviction this morning, in the rain. All tents seized“, meldete die Calaiser Initiative Human Rights Observers am 2. Oktober. Einen Tag später veröffentlichte die Gruppe Fotos eines nächtlichen CS-Gas-Einsatzes der Polizei gegen Migrant_innen, die ihre Zelte an den Straßenrand hätten verlegen wollen.

CS-Gas-Einsatz gegen Migrant_innen in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 2020. (Foto: Human Rights Observers/Twitter)

Die zurückkehrenden Menschen trafen in Calais nun also mit denen zusammen, die den Räumungen rechtzeitig ausgewichen waren – und fanden sich mit ihnen in einer angespannten Situation wieder. Exemplarisch beschrieb die Hilfsorganisation Care4Calais am 3. Oktober den Fall eines Rückkehrers aus der Nähe von Toulouse. „Our friend returned to Calais […] to find police assaulting those who had also managed to come back. Officials kicked him out of the area where he used to stay and he is now back on the streets. He has no idea what to do or where to go.“

Wie auch Passeurs d’hospitalités am 2. Oktober berichtet, hielt die Polizei das Gelände des Hospital Jungle besetzt und vertrieb diejenigen, die mangels Alternativen dorthin zurückkehrten. „Die Menschen verstecken sich in der Stadt und rings umher in den Büschen. Trotz der Kälte und des Regens intensiviert sich die Jagd. […] Heute morgen griff die Polizei erneut am Rande des Krenkenhauses von Calais ein, um die Exilierten in Busse zu drängen. Insgesamt 102 Personen wurden an diesem Freitag abtransportiert […]. Einige Leute waren also zweimal innerhalb von vier Tagen unterwegs. Heute Abend sind bereits viele wieder zurückgekehrt – trotz der wiederholten Vertreibungen der letzten Tage, die ihren Wunsch nur noch verstärken, dieses feindselige Land zu verlassen.“

In diesem Kontext nutzt die Präfektur auch die von ihr regulierte Verteilung von Nahrung und Wasser, um die Rückkehr in den Hospital Jungle zu erschweren. Wie wir an dieser Stelle bereits mehrfach berichteten, hat der damals neu ernannte Präfekt Le Franc am 10. September die Versorgungsleistungen zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Innenstadt von Calais verboten (siehe hier) und den Geltungsbereich des Verbots dann am 30. September auf weitere Teile der Stadt sowie informell auf das Gelände am Krankenhaus ausgedehnt (siehe hier), wo bis dahin regelmäßig Wasser und Nahrung ausgegeben wurden, u.a. durch den staatlich beauftragten Verband La via active.

Polizei zwischen einer zivilgesellschaftlichen Nahrungsverteilung (hinten rechts) und den Geflüchtete (vorn); im Hintergrund der Calaiser Fährhafen. (Foto: Utopia 56)

Wie die Lokalzeitung La voix du Nord berichtet, stellte die Präfektur diesen wichtigen Versorgungspunkt am Hospital Jungle am 2. Oktober ein und lässt La via active seitdem sogenannte maraudes alimentaires duchführen: Verteilungen mithilfe von zwei Lieferwagen, die die Stadt morgens von 9:30 bis 11:30 Uhr und nachmittags von 14:15 bis 16:30 Uhr durchqueren und dabei je eine Mahlzeit und einen 5-Liter-Behälter Wasser pro Migrant_in aushändigen.

Diese Form der mobilen Verteilung wird seit Jahren in ähnlicher Weise von den zivilgesellschaftlichen Organisationen praktiziert, um möglichst nah an den sich häufig verändernden Schlafplätzen und Treffpunkten präsent zu sein, materielle und immaterielle Hilfe anzubieten, Empathie zu zeigen und nicht zuletzt die Menschenrechtslage zu dokumentieren. In der Lesart der Präfektur soll diese Variante nun dazu dienen, „Ansammlungen von Personen zu verhindern“. Als taktisches Element zielt sie also auf die Zerstreuung der Migrant_innen auf eine Vielzahl kleiner, peripherer und prekärer Orte und soll das An- und Zusammenwachsen größerer Camps zu einem Jungle wie in der Nähe des Krankenhauses verhindern.

In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober kam es am sogenannten BMX-Camp, einem kleinen eritreischen Camp bei einer BMX-Anlage, zu einer Auseinandersetzung zwischen Geflüchteten und CRS-Polizisten, bei der nach Angaben von La voix du Nord acht Beamte verletzt wurden. Die Zeitung zitierte aus diesem Anlass Vertreter zweier Polizeigewerkschaften, die erklärten, die migrantische Bevölkerung sei „gewalttätiger und alkoholisierter“ als früher, während die Beamten „abgestumpft“ seien. Die Polizeigewerkschafter prognostizierten eine Zuspitzung der Situation in den Wintermonaten, auch weil die Bootspassagen über den Ärmelkanal witterungsbedingt schwieriger würden und die Migrant_innen daher wieder dazu übergingen, sich in Lastwagen zu verstecken und den Verkehr auf der Zubringerautobahn zum Fährhafen zu blockieren. Kurz darauf ergänzte die Zeitung, dass das gleiche Phänomen auch an der von Lastwagen genutzten Autobahnabfahrt zu den Verladeterminals am Kanaltunnel seit der Räumungswelle vom Juli zu beobachten sei und weiter zunehmene.

Was sich in den Vorkommnissen am BMX-Camp spiegelt, ist das Kirrewerden in einer Situation suspendierter Normalität und stetiger Entmenschlichung. Eine zumindest teilweise Rückverlagerung der Grenzpassage vom Schlauchboot hin zum Lastwagen dürfte die Situation in der Tat noch weiter verschlimmern, denn diese Migrationstechnik ist erfahrungsgemäß besonders konfliktreich, aufreibend und gefährlich. Zur gleichen Zeit hat die zweite Welle der Corona-Pandemie in Frankreich, wie auch weltweit, eine ähnliche Dynamik wie im Frühjahr gewonnen. In Calais zeichnet sich also eine multiple Krise ab.