Interview mit Maël Galisson über die Toten der französisch-britischen Grenze (Teil 3)
English version below
Im letzten Teil des Interviews spricht Maël Galisson über die Todesfälle auf See, über die Sekuritisierung des Ärmelkanals, über den Umgang mit den Körpern der Toten und über das, was politisch zu tun wäre.
Seit 2018 ist die Zahl der Bootspassagen über den Ärmelkanal erheblich gestiegen. Ich würde mit Ihnen daher gern über die Todesfälle auf See sprechen. Wie viele Exilierte sind Ihres Wissens bislang auf See gestorben?
Für das Jahr 2018 habe ich keinen Todesfall nach einem Versuch, den Kanal zu überqueren, identifiziert. Aber vielleicht fehlt mit auch einfach die Information.
Im Jahr 2019 habe ich vier Todesfälle gezählt. Am 9. August 2019 ertrank Mitra Mehrad im Ärmelkanal, als sie mit 19 anderen Personen versuchte, Großbritannien an Bord eines Dinghys zu erreichen. Rettungsteams waren geschickt worden, um das in Schwierigkeiten geratene Dinghy zu unterstützen. Am Freitag, den 23. August 2019, wurde die Leiche eines 47jährigen irakischen Mannes im Wasser des Thorntonback-Windparks vor der belgischen Küste entdeckt. Er trug Schwimmflossen und eine Schwimmweste, die aus einem mit leeren Plastikflaschen gefüllten Rucksack gemacht war. Es sind nur wenige Details über Niknam Massoud bekannt. Am 14. Oktober 2019 wurden Hussein Mofaq Hussein und Soran Jamal, zwei irakische Kurden aus der Stadt Slemani, am Strand von Le Touquet im Pas-de-Calais tot aufgefunden. Es wird vermutet, dass die beiden ertrunken sind, nachdem sie beim Versuch, den Kanal in einem kleinen Boot zu überqueren, ins Wasser fielen.
Im Jahr 2020 habe ich neun Todesfälle identifiziert. Die Leiche des 22jährigen Abdulfatah Hamdallah wurde am Mittwoch, den 19. August 2020, auf dem Strand von Sangatte im Pas-de-Calais gefunden. Er ertrank, nachdem er die Straße von Dover in einem behelfsmäßigen Boot zu überqueren versucht hatte. Aus West-Kordofan im Sudan stammend, war Abdulfatah 2014 aus seinem Land geflohen. Er saß mindestens zwei Jahre in Libyen fest, bevor er Europa erreichte. Abdulfatah beantragte 2918 in Frankreich Asyl, aber sein Antrag wurde abgelehnt. Am 18. Oktober 2020 wurde die Leiche von Behzad Bagheri-Parvin, einem 32jährigen iranischen Exilierten, am Strand von Sangatte gefunden. Er ertrank nach dem Sturz von einem Boot während er den Kanal zu überqueren versuchte. Am Dienstag, den 27. Oktober 2020, starben sieben Menschen beim Versuch, die Nordsee an Bord eines Bootes zu überqueren. Kurz nach dem Ablegen erlitt das Boot, das mindestens 18 Personen trug, vor Loon-Plage Schiffbruch. Unter den erfassten Opfern ist eine Familie iranischer Kurden (das Ehepaar Rasul Iran Nezhad und Shiva Mohammad Panahi mit seinen drei Kindern Anita, Armin und Artin).
Vor einigen Jahren wurden die Leichen zweier junger Exilierter, die in Calais vermisst wurden, auf der niederländischen Insel Texel und in Skandinavien gefunden. Sie waren von der Meeresströmung dorthin gespült worden. Ist es möglich, dass Todesfälle auf See unentdeckt bleiben? Oder würde es bemerkt werden, wenn jemand auf See verschwindet?
Wie schon gesagt: Es ist wahrscheinlich, dass einige Opfer, die die Grenze versucht haben zu passieren, in Vergessenheit geraten sind, und das gilt umso mehr dann, wenn Leute Großbritannien mit dem Boot zu erreichen versuchen. Was den Tod von Mouaz Al-Bakhli und Shadi Omar Kataf – zwei junge syrische Geflüchtete, die vor dem Krieg geflohen waren – betrifft, so hat der Reporter Andreas Fjellberg einen großartigen Job gemacht. Die niederländische und die norwegische Polizei hatten den Fall bereits abgeschlossen, aber Andreas Fjellberg entschied sich, die Ermittlungen zur Identifizierung der Toten fortzusetzen.
Soweit wir es mitbekommen, sind die Bootspassagen nach Großbritannien im Vergleich zu anderen maritimen Routen wie im Mittelmeer und zu den Kanarischen Inseln vergleichsweise sicher, vor allem wenn sie mit motorisierten Booten über eine kurze Distanz durchgeführt werden. In den vergangenen Monaten jedoch gab es Berichte über gefährlichere Techniken, überfüllte Boote und längere Distanzen. Im Oktober 2020 starben acht Leute im Ärmelkanal. Haben wir nun einen Punkt erreicht, an dem die Situation kippt?
Das ist eine Folge der Sekuritisierung dieser Grenze. Seit mehr als zwanzig Jahren erklären die französischen und britischen Behörden, sie wollten die Grenze „luftdicht“ und „ungangbar“ machen. Sie bauen Mauern und Zäune, sie installieren Klingendraht und Videoüberweachung, die französische Polizei schikaniert die Migrant_innen in Calais und Umgebung jeden Tag… Die Grenze versteckt in einem Lastwagen oder in einem Zug zu überqueren, ist immer komplizierter geworden, also versuchen die Leute jetzt, das Großbritannien per Boot zu erreichen.
Es ist nicht so, dass es keine Möglichkeiten gäbe, diese Grenze zu passieren, denn in Wirklichkeit ist der Ärmelkanal eine der meistbefahrenen Routen in der EU. Es ist vielmehr so, dass die Behörden auf beiden Seiten weiterhin versuchen, die Grenze gegen diese speziellen Reisenden zu befestigen: Vorigen Sommer mobilisierten die britischen Behörden Militärschiffe und -flugzeuge, um die See zu überwachen und die Einreise der Migrant_innen zu verhindern. Wenn wir uns an einem Wendepunkt befinden, dann, weil die Politik uns dahin gebracht hat.
Waren die Todesfälle in Frankreich eigentlich jemals ein öffentliches Thema? Und werden sie politisch debattiert?
Für lokale Aktivist_innen und NGOs ist diese Form von Ingestigation eine Möglichkeit, um die Erinnerung an die Opfer zu bewahren und anzuprangern, was an der Grenze geschieht. Allerdings haben die Behörden, wie ich schon sagte, dieses Thema auch manipuliert: Sie nutzen die Todesfälle nun, um Menschen von ihrem Versuch abzubringen, nach Großbritannien zu gelangen. Wie die Forscher Charles Heller und Antoine Pécoud bereits gezeigt haben, kann das Zählen der Todesfälle von Migrant_innen an der Grenze von offiziellen Institutionen instrumentalisiert werden.[1]
Auf meiner Ebene habe ich diese Nachforschungen betrieben, um die Folgen der gegenwärtigen Migrationspolitik sichtbar zu machen und den dringenden Bedarf nach Veränderung dieser Politik aufzuzeigen. Aber mir ist auch bewusst, wie diese Recherchen für entgegengesetzte Ziele genutzt werden können, zum Beispiel um momentane politische Orientierungen zu rechtfertigen und mit der Militarisierung der Grenze fortzufahren.
Was geschieht mit den Körpern der Toten?
Wenn der Körper eines Opfers gefunden wird, geht es zunächst darum, die Person zu identifizieren. Der Körper wird in die Leichenhalle des Krankenhauses gebracht. Wenn es keine Dokumente oder Hinweise bei der Leiche gibt, müssen wir irgendwelche Freunde oder Angehörigen des Opfers finden – Leute, die mit ihm oder ihr unterwegs waren –, um das Opfer zu identifizieren. Nach der Identifizierung, und wenn ein Kontakt zur Familie möglich ist, muss entschieden werden, ob eine Überführung in die Heimat durchgeführt werden soll oder ob die Person in Frankreich bestattet werden soll. Aber die Überführung oder das Begräbnis können teuer sein, und so kommt es vor, dass auch die Angehörigen Hilfe benötigen. In solchen Fällen können die Mittel von religiösen Gruppen, Vereinigungen oder Einzelpersonen aufgebracht werden.
Was ich hier erklärt habe, ist die „normale“ Vorgehensweise. Aber in Calais und Umgebung haben wir viele Male erlebt, dass Opfer begraben wurden, ohne identifiziert worden zu sein oder ohne dass es einen Kontakt zur Familie gab.
In der Art und Weise, sie die Unsichtbarmachung der Migrant_innen nach ihrem Tod weitergeht, liegt etwas besonders Grausames.
Wie wird der Brexit aus Ihrer Sicht die Risiken und die Todesfälle in der Ärmelkanal-Region beeinflussen?
Ich bin nicht sicher, dass der Brexit die Situation radikal ändern wird. Diese Grenze wird durch eine Reihe bilateraler Vereinbarungen zwischen Frankreich und Großbritannien geregelt, die Vorrang vor europäischen Vorschriften haben. Leider ist es wahrscheinlich, dass die sehr schlechte Situation für Migrant_innen in Nordfrankreich fortbestehen wird, nachdem Großbritannien die EU verlassen hat…
Was sollte geschehen, damit es keine weiteren Grenztoten gibt?
Ich trete für Freizügigkeit ein, wie sie in Artikel 13 [2] der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UDHR) enthalten ist. Das ist eine Frage der Gleichheit: Warum kann ich als französischer Staatsbürger ohne Schwierigkeiten reisen, während der größte Teil der Menschheit gezwungen ist, dort zu leben, wo man geboren ist? Ich halte die Gewährung des Rechts auf Freizügigkeit für die beste Lösung, um Todesfälle von Migrant_innen an den Grenzen zu vermeiden. Ich weiss, dass diese Ansicht vielen Leuten unheimlich ist, linke Aktivist_innen und politische Parteien eingeschlossen.
Gleichzeitig wäre die Situation in Calais und Umgebung nicht so katastrophal, wenn sich die französischen Behörden wenigstens an das Gesetz, so wie es momentan gilt, halten würden. Normalerweise haben schutzbedürftige und obdachlose Menschen in Frankreich das Recht auf Zugang zu Notunterkünften, und Asylsuchende sollten ein Asylverfahren nach drei Tagen auf französischem Territorium beginnen können. Aber die französischen Behörden halten sich nicht an das Gesetz, nehmen Geflüchtete nicht auf und schicken lieber Polizeikräfte, um sie davon abzuhalten, in Calais und anderen Grenzgebieten zu bleiben. Diese Politik der Gewalt hat sich sogar im Zentrum von Paris wiederholt, und zwar auf dem symbolträchtigen Platz der Republik, als Leute kürzlich versuchten, ein Sit-in mit Zelten zu veranstalten, um die Behandlung der Migrant_innen im Land anzuprangern.
[1] Vgl. Charles Heller und Antoine Pécoud, « Compter les morts aux frontières : des contre-statistiques de la société civile à la récupération (inter)gouvernementale », Revue européenne des migrations internationales [online], vol. 33, Nr. 2 u. 3 | 2017, online gestellt am 1. September 2019, konsultiert am 25. Dezember 2020. URL : http://journals.openedition.org/remi/8732
[2] (1) Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. (2) Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.
„I consider the right to move freely to be the best solution“
An Interview with Maël Galisson about deaths at the Franco-British border (part 3)
Since 2018, the number of channel crossings by small boats has increased considerably. I would therefore like to ask about deaths at sea. To your knowledge, how many exiles have died at sea so far?
For 2018, I did not identify any deaths after an attempt to cross the Channel. But maybe I do not have the information.
In 2019, I counted 4 deaths. On 9 August 2019, Mitra Mehrad drowned in the Channel whilst trying to reach the UK aboard a dinghy with 19 other persons. Rescue teams were sent to assist the dinghy in distress. Her body has not yet been recovered. On Friday 23 August 2019 the body of a 47-year-old Iraqi man was discovered in the water of the Thorntonback wind farm, off the coast of Belgium. He was wearing flippers and a life jacket made from a rucksack filled with empty plastic bottles. Few details are known of Niknam Massoud. On 14 October 2019, Hussein Mofaq Hussein and Soran Jamal, two Iraqi Kurds from the town of Slemani, were found dead on a beach in Le Touquet, Pas-de-Calais. It is presumed that the two drowned after falling into the water while attempting to cross the Channel in a small boat.
In 2020, I have identified 9 deaths. The body of 22-year-old Abdulfatah Hamdallah was found on Wednesday 19 August 2020 on Sangatte beach. He drowned after trying to cross the Strait of Pas-de-Calais on a makeshift boat. A native of west Kordofan, Sudan, Abdulfatah fled his country in 2014. He spent at least two years stuck in Libya before reaching Europe. Adbulfatah asked for asylum in France in 2018 but his application was rejected. On 18 October 2020, the body of Behzad Bagheri-Parvin, a 32-year-old Iranian exile, was found on the beach at Sangatte, in the Pas-de-Calais. He drowned after falling from a boat while trying to cross the Channel. On Tuesday 27 October 2020, seven people died trying to cross the North Sea aboard a boat. Shortly after departure, the boat, which was carrying at least 18 people, was wrecked off Loon-Plage. Among the recorded victims is a family from Iranian Kurdistan (a couple, Rasul Iran Nezhad and Shiva Mohammad Panahi, and their three children, Anita, Armin and Artin).
A few years ago, the bodies of two exiles missing in Calais were found on the Dutch island of Texel and in Scandinavia. They had gotten there by ocean current. Is it possible that deaths at sea go undetected? Or would it be noticed if someone was missing at sea?
As I said, it is likely that some victims who tried crossing the border have fallen into oblivion, and even more so when people try to reach the UK by boat. The reporter Anders Fjellberg did a great job concerning the deaths of Mouaz Al-Bakhli and Shadi Omar Kataf, two young Syrian refugees who had fled the war. The Dutch and Norwich polices had closed the case, but Anders Fjellberg decided to continue the investigation to identify the bodies.
As far as we have noticed, the crossings were relatively safe, compared to other maritime routes like the Mediterranean or the Canaries, at least if they were carried out with motorized boats over a short distance. In recent months, however, there have been reports of more dangerous techniques, overcrowded boats and longer distances. Last month (October) eight people died in the Channel. So have we reached a turning point?
This is a consequence of the securitisation of this border. For more than 20 years, the French and British authorities are claiming that they will make the border “airtight“ and “unviable“. They build walls and fences, they install barbed wire and video-surveillance, the French police harasses migrants daily in Calais and in its area… Crossing the border hidden in a truck or in a train is becoming increasingly complicated, so, now, people try to reach the UK by boat.
This is not happening because there are no existing means to cross the border: in fact, the Channel is one of the busiest maritime routes in the EU. This is happening because the authorities on both sides continue in their attempts to fortify the border for those specific travellers: last summer, British authorities mobilised military boats and planes to control the sea and prevent migrant journeys. If we are at a turning point, it is only because politics sent us here.
Were the deaths in France ever a public issue? Are there political debates about this?
For local activists and NGOs, this kind of investigation is a means to preserve the memory of the victims and to denounce what happens at the borders. But, as I said, the authorities have also manipulated the issue: they now use these deaths in order to dissuade people trying to reach UK. As researchers Charles Heller and Antoine Pécoud have already shown, counting migrant deaths at the border can be instrumentalised by official institutions.[1]
At my level, I pursued this research in order to make visible the consequences of current migration policies and to show the urgent need to change these policies. But I am also aware of how this research could be used towards the opposite aims, for instance to justify current political orientations and to continue the militarisation of the border.
What happens to the bodies of the dead?
When the body of a victim is discovered, the first step is to identify the person. The body is brought to the morgue of the hospital. If there is no documents or clues with the body, we need to find some friends or relatives of the victim – people who were travelling with him/her – in order to identify the victim. After the identification, and when contact with the family is possible, the decision of whether a repatriation procedure should be undertaken or whether the person will be buried in France needs to be made. But the repatriation or burial procedure can be expensive and so relatives may need help too. In such case, funds can be raised from religious groups, associations or individuals.
What I explain here is the “regular” procedure. But, in Calais and its area, we have witnessed many times victims being buried without being identified, or without any contact with the family.
There is something particularly horrific in the way the invisibilisation of migrants continues after their death.
What, in your view, will be the impact of Brexit on risks and deaths in the Channel region?
I am not sure that Brexit will change radically the situation. This border is governed by a series of bilateral agreements between France and the UK which prevail over European rules. Unfortunately, it is likely the very bad current situation for migrants in the north of France will continue after the UK will have left the EU…
What should happen so that there would be no more border deaths?
I defend freedom of movement, as included in the article 13 [2] of the Universal Declaration of Human Rights (UDHR). This is a matter of equality: why, as a French citizen, can I travel without difficulties while the majority of humanity is assigned to reside where they were born? I consider that giving the right to move freely to be the best solution to avoid migrant deaths at the borders. I know this opinion seems scary to a lot a people, including left wing activists and political parties.
At the same time, in Calais and its area, if at the very least the French authorities respected the law as it currently stands, the situation wouldn‘t be as catastrophic as it is. Normally, in France, vulnerable and homeless people have the right to access emergency accommodation, and asylum seekers should be able to start the asylum procedure after 3 days on French territory. But French authorities do not respect the law, do not host refugees and prefer sending police forces to dissuade them from staying in Calais and others border areas. This politics of violence has even been replicated in the very centre of Paris, on the highly symbolic Republic square, when people recently tried to. stage a sit-in with tents to denounce the treatment of migrants in the country.
[1] Charles Heller et Antoine Pécoud, « Compter les morts aux frontières : des contre-statistiques de la société civile à la récupération (inter)gouvernementale », Revue européenne des migrations internationales [En ligne], vol. 33 – n°2 et 3 | 2017, mis en ligne le 01 septembre 2019, consulté le 25 décembre 2020. URL : http://journals.openedition.org/remi/8732
[2] (1)Everyone has the right to freedom of movement and residence within the borders of each state. (2) Everyone has the right to leave any country, including his own, and to return to his country.