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Channel crossings & UK

Artin Iran Nezhad

Artin auf einem privaten Foto, das von der BBC veröffnetlicht wurde. (Quelle: BBC)

Am 27. Oktober 2020 starben sieben Geflüchtete bei der Havarie ihres Bootes im Ärmelkanal. Unter ihnen war eine fünfköpfige Familie mit ihren drei Kindern im Alter von 15 Monaten, drei Jahren und acht Jahren. Nicht alle Opfer wurden damals gefunden, sodass zunächst nur vier Todesfälle gemeldet worden waren (siehe hier und hier). Nun ist der Leichnam des jüngsten Kindes, Artin, in Norwegen identifiziert worden. Der Junge war durch Meeresströmungen dorthin getrieben worden.

Die Familie auf privaten Fotos, zusammengestellt von der BBC. (Quelle: BBC)

Wie BBC und andere Medien berichtet, war die Leiche am 1. Januar 2021 an der norwegischen Südwestküste nahe Karmøy nördlich von Stavanger gefunden worden. Die Kleidung habe erste Hinweise gegeben, dass es sich um den Vermissten handeln könne. Forensiker_innen der Universität Oslo konnten anhand einer DNA-Analyse nun bestätigen, dass es sich um Artin handelt. Am 7. Juni gaben die norwegischen Behörden die Identität öffentlich bekannt.

Bei der Havarie waren Artins Vater Rasoul Iran-Nejad, seine Mutter Shiva Mohammad Panahi und seine Geschwister Anita und Armin ertrunken. Die kurdische Familie stammte aus der iranischen Stadt Sardasht in der Nähe der irakischen Grenze. Von dort war sie im August 2020 aufgebrochen und hatte über die Türkei und Italien Frankreich erreicht.

Der Guardian sprach mit einem Geflüchteten, der die Familie kennengelernt und sich insbesondere mit den Kindern angefreundet hatte; inzwischen hat der Mann es nach Großbritannien geschafft und lebt in London:

„Nach Angaben des Asylbewerbers hatte sich Artins Familie ursprünglich an einen Schleuser gewandt, der ihnen eine relativ sichere Passage anbot, aber dieser hatte sie abgewiesen, weil sie es sich nicht leisten konnten, ihm das Verlangte zu bezahlen. ‚Sie hatten sehr wenig Geld‘, sagte der Asylbewerber. ‚Sie bettelten Familie und Freunde an, ihr Gold zu verkaufen, damit sie den Schmuggler bezahlen konnten und schafften es, 5.000 € aufzubringen, um die Überfahrt für die ganze Familie zu bezahlen. Aber der Schmuggler sagte, das sei nicht genug.‘

Er sagte, er habe eine Sprachnachricht von Shiva erhalten, in der stand, dass der Schmuggler sie wegen Geldmangels abgewiesen habe. ‚Die Schmuggler sind sehr unehrlich. Sie haben uns nicht genommen … Sie haben einige unserer Freunde genommen, die mehr Geld bezahlt hatten‘, sagte Shiva in einem flachen, verzweifelten Ton in der Sprachnachricht.

‚Shiva war hoffnungslos und enttäuscht und sie gaben das Geld einem anderen Schmuggler, der weniger verlangte‘, sagte der Asylbewerber. ‚Aber er zwang sie zur Überfahrt bei schlechtem Wetter, in einem überfüllten Boot. Er sagte, die Familie müsse übersetzen, um ihm zu helfen, weil er Schulden bei einem anderen Schmuggler habe, die er zurückzahlen müsse.‘

Er [der Zeuge] sagte, dass einige der Asylsuchenden die Regel hatten, dass sie nicht versuchen würden, den Kanal zu überqueren, wenn die Wellen höher als 10 bis 20 cm waren. ‚In dieser Nacht waren die Wellen 70 cm hoch. Viele Schmuggler haben dann keine Überfahrten gemacht, weil das Wetter zu schlecht war.

Er sagte, dass die Familie vor eine unmögliche Wahl gestellt wurde. ‚Der Schmuggler sagte zu ihnen: Wenn ihr heute Nacht nicht überquert, geht einfach weg, ihr werdet euer Geld nicht zurückbekommen.‘“

Außerdem erklärte der Mann:

„Wenn wir als Asylsuchende keinen legalen Weg haben, um Sicherheit zu erreichen, haben wir keine andere Wahl, als den illegalen Weg zu nutzen. Das ist es, wozu die Familie, die ertrunken ist, gezwungen wurde. Ich wünsche ihnen, dass sie im Jenseits in Frieden ruhen können.“

Die BBC schildert die Situation anhand von Textnachrichten der Mutter, die der Sender einsehen konnte, ähnlich. „Wir haben keine Wahl“, habe sie geschrieben und geklagt, nicht genügend Geld für eine Alternative zu besitzen.

Statement des britischen Premierministers Boris Johnson, dokumentiert durch den BBC-Journalisten Simon Jones am 27. Oktober 2020.

Nach dem Tod der Familie hatte Boris Johnson in den Sozialen Medien kondoliert. Bekundungen dieser Art sind standardmäßig mit der Aussage verbunden, künftige Todesfälle durch die Bekämpfung der ‚illegalen‘ Migration (alternativ: der ‚kriminellen Banden‘, die Menschen zu ‚gefährlichen Reisen‘ anstiften würden) verhindern zu wollen. Gemeint ist die Schließung der Kanalroute. Auch Johnson nutzte den Akt des Kondolierens für ein solches Statement.

In einem Telefonat zur Vorbereitung des G7-Gipfels verlangte Johnson von Emanuel Macron vor wenigen Tagen eine Verdopplung der Bemühungen Frankreichs zur Bekämpfung der Channel crossings. Die Marktmechanismen, die der Londoner Zeuge dem Guardian erläuterte, und die migrationspolitischen Settings, die diesen Markt konstituieren und strukturieren, werden dadurch nicht beseitigt, sondern eskaliert. Innerhalb dieser Settings sterben Menschen gleichsam nach dem Zufallsprinzip. Die Familie Artins waren einige von ihnen, und weitere werden stillschweigend in Kauf genommen werden. Gelegentlich wird man kondolieren, vor allem bei Kindern.

Artin Iran Nezhad soll nun nach Sardasht überführt und dort beigesetzt werden.