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Calais

Im Raum der Extralegalität

Zu den von Utopia 56 öffentlich gemachten Misshandlungen

Auf dem Rücksitz des Polizeiwagens zusammenschlagen – Brandwunden mit dem Feuerzeug zufügen – einen Mann durch Urinieren wecken – einem anderen die Schuhe wegnehmen und ihn barfuß an der Autobahnauffahrt zurücklassen – Familienzelte mit CS-Gas einsprühen. – Der Migrationsforscher Michel Agier beschrieb den Jungle von Calais in seinem gleichnamigen Standardwerk [1] als einen Lebensort innerhalb der dort zur Falle gewordenen Grenze, der zugleich durch drei Dimensionen der Ausgrenzung konstituiert ist: die Exklusion der Menschen, die (faktische) Extraterritorialität des Raumes und Extralegalität des Status. Der Jungle als Hüttenstadt vieler tausend Bewohner_innen, der im Mittelpunkt der Analyse Agiers und seines Teams stand, besteht seit knapp fünf Jahren nicht mehr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mechanismen des Verdrängens der Exilierten in gleichsam rechtsfreie Zonen damit beendet wären. Die oben umrissenen Gewaltakte, die laut einer Mitteilung von Utopia 56 von Angehörigen der Sicherheitskräfte an Exilierten in Calais verübt wurden (siehe hier), sind nur denkbar in einem solchen Raum suspendierter (menschen)rechtlicher Normen, in dem die Handlungsmacht der Polizei gleichsam entgrenzt ist – sei es, dass ihnen ein solcher extralegaler Handlungsraum gewährt wird, sei es, dass sie ihn sich selbst aneignen. Inzwischen ist mehr über die Fälle, ihren Kontext und ihre möglichen Konsequenzen bekannt geworden.

Eskalierte Polizeigewalt nach den Ereignissen Anfang Juni

Das Portal InfoMigrants sprach nach der Veröffentlichung der Fälle mit der Koordinatorin von Utopia 56 in Calais, Siloé Médriane. Die folgende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf diese Quelle.

Ihr zufolge sei die Situation zwischen Exilierten und der Polizei im Sommer, wenn die Zahl versuchter Grenzübertritte nach Großritannien zunimmt, oft angespannter. Aber die Gewaltakte der Polizei seien noch nie so schwerwiegend gewesen wie seit Anfang Juni.

In der Nacht vom 1. auf den 2. Juni war es, wie wir schon berichteten, in der Nähe des Autobahnzubringers zum Fährhafen zu einer mehrstündigen Auseinandersetzung zwischen einer Kompanie des CRS und eritreischen Exilierten gekommen, in deren Verlauf ein eritreischer Mann festgenommen und sieben Polizeiangehörige (leicht) verletzt worden waren (siehe ausführlich hier). Siloé Médriane zufolge berichteten auch Exilierte von Verletzungen. Zwei von ihnen seien immer noch im Krankenhaus, nachdem sie durch ein Gummigeschoss am Auge getroffen worden seien.

Diese Ereignisse markieren offensichtlich den Ausgangspunkt der massiven Polizeiübergriffe insbesondere gegenüber Eritreer_innen. Die nun veröffentlichten Fälle wurden von Utopia 56 zwischen dem 14. und 20. Juni gesammelt und dann am 21. Juni veröffentlicht. Sie entstammen also einem Zeitraum von nur sieben Tagen, was auf ein großes Dunkelfeld schließen lässt.

Utopia 56 wird diese gesammelten Zeug_innenenaussagen, so die Koordinatorin, an den Défenseur des droits weiterleiten. Diese unabhängige Behörde der Französischen Republik fungiert als Ombundsstelle in Fragen der Menschenrechte; ihre Leiter_innen haben sich in der Vergangenheit mehrfach mit dem Polizeiverhalten in Calais beschäftigt und schwere Verstöße gegen menschenrechtliche Normen bestätigt (siehe hier sowie die dort verlinkten älteren Fälle).

Siloé Médriane weist darauf hin, dass Utopia 56 es für wichtig hält, dass die Exilierten die begangene Gewalt anzeigen, es aber nur selten zu strafrechtlichen Ermittlungen komme. Als einen Grund dafür nennt sie, dass Betroffene keine Klage einreichten, weil die Verfahren langwierig seien, die Menschen aber so kurz wie nur möglich in Calais bleiben wollten. Medizinische Atteste über die zugefügten Verletzungen seien schwierig zu erhalten. Manchmal verbringen die Unterstützer_innen sieben bis acht Stunden im Krankenhaus, um ein Papier von einem Arzt zu bekommen, das die geschilderten Ereignisse bestätigt. Durch frühere Gewalterfahrungen verursachte Traumatisierungen erschwerten dies zusätzlich. Vor ihrem biographischen Hintergrund neigten manche Betroffene außerdem zur Bagatellisierung der in Calais erlebten Gewalt: „Sie haben während ihrer Migrationsreise möglicherweise schon schlimmere Gewalt erlitten.“ Hinzu komme die physische und psychische Erschöpfung durch den latenten Entzug existenzieller Ressourcen in Calais.

Die Gewalttaten der Polizei fügen sich in einen ohnehin eskalierten Kontext: Nach der inzwischen elften Verlängerung und räumlichen Ausweitung des am 11. September 2020 erlassenen Verbots zivilgesellschaftlicher Lebensmittelverteilungen in weiten Teilen von Calais (siehe hier) ist die Grundversorgung schwieriger geworden. Die routinemäßigen Räumungen im Abstand von 48 Stunden sind seit einigen Monaten weniger vorhersehbar und treffen die Exilierten daher härter. Seit dem Frühjahr wurden so viele Zelte beschlagnahmt – allein im April über 1.100 – wie nie zuvor. „Das Ziel ist eindeutig, sie [die Exilierten] zu entmenschlichen“, so Siloé Médriane. „Nach einem Angriff schlafen die Menschen mehrere Nächte lang nicht [aus Angst, wieder angegriffen zu werden]. Hinzu kommt, dass die Exilierten, die kein Zelt und keine Ausrüstung haben, auf dem Boden auf einem Stück Pappe schlafen. All diese Dinge erhöhen die Verwundbarkeit der Menschen.“

Zielgerichtetes Handeln gegen die eritreische Community

Die Serie extralegaler Gewaltakte ist ohne diesen Kontext systemischer Gewalt nicht denkbar. Als ein bewußt Handeln in einem Raum suspendierter Normalität bringt sie ihn vielmehr auf den Punkt. Sie tut dies (momentan) jedoch weniger pauschal gegen ‚die‘ Exilierten, sondern offenbar zielgerichtet gegen eine bestimmte Gruppe, die schon mehrfach Opfer dieser Gewalt war. Bereits am 13. April 2020 berichtete die Eritrean refugee community in Calais in einem offenen Brief über gezielte Schikanen und Gewalttaten des CRS gegen sie (siehe hier).

Am 11. November 2020 erlitt ein Mitglied der eritreischen Community lebensgefährliche Verletzungen am Schädel durch ein Gummigeschoss des CRS und musste zwei Monate lang im Krankenhaus behandelt werden (aktuell ist der Mann von einer Abschiebung in die Niederlande bedroht). In einem erneuten offenen Brief schrieb die Community damals: „Die CRS handelt manchmal als stünde sie über dem Gesetz; ein demokratisches Land kann nicht als solches angesehen werden, wenn es auf diese Weise physische Gewalt anwendet. Dies macht es unzivilisiert und macht die Ausübung seiner staatlichen Gewalt inakzeptabel.. […] Wir rechnen damit, dass sie jederzeit erneut zuschlagen können, weil sie unseren Bruder aus nächster Nähe getroffen haben. An diesem Punkt beschließen wir, zu sprechen und um Hilfe zu bitten. Rechtlich gesehen hat jeder Bürger das Recht, für sich selbst und die Menschen, die er liebt, einzutreten, was als Selbstverteidigung bezeichnet wird. Wir müssen nur diejenigen aufklären, die davon betroffen sein könnten. In diesem Land der Freiheit und Demokratie müssen unsere Menschenrechte respektiert werden. Andernfalls werden wir uns und unseren Lebensort auf jeden Fall verteidigen.“ (vollständige Übersetzung hier)

Das an einer BMX-Anlage gelegene und nach ihr benannte eritreische Camp sollte im März 2021 geräumt werden, doch gelang es den Bewohner_innen mit Unterstützung der Zivilgesellschaft am 23. März wider Erwarten, die Räumung durch eine juristische Intervention zu verhindern (siehe hier). Unmittelbar darauf veränderte sich die Art und Weise der routinemäßigen Räumungen: Statt an jedem zweiten Tag vormittags einem vorhersehbaren Plan zu folgen, fanden sie nun unvorhersehbarer statt, was es den Betroffenen erschwert, ihre Zelte und ihr Eigentum zu sichern (siehe hier und hier). Damals hatten lokale Aktivitst_innen uns gegenüber die Vermutung geäußert, dass es sich bei dieser Umstellung der Taktik (auch) um eine Rache für den unerwarteten juristischen Erfolg handeln könnte. In der Folgezeit kam es dann am 13./14. Mai (siehe hier) und 1./2. Juni (siehe hier) zweimal zu kollektiven Versuchen der Geflüchteten, auf das Hafengelände bzw. die Zubringerautobahn zu gelangen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Handlungslogik nachvollziehen, mit der CRS-Angehörige von Mal zu Mal radikaler agierten und in den beschrieben Fällen die Grenze der Legalität weit überschritten haben. Die Resilienz der Community demonstriert zugleich, dass sie damit von Mal zu Mal scheiterten.

[1] Agier, Michel: La Jungle de Calais. Les migrants, la frontière et le camp, Paris 2018 (dt.: Der „Dschungel von Calais“. Über das Leben in einem Flüchtlingslager, Bielefeld 2020)