Die Überquerung des Ärmelkanals in kleinen Booten hat sich als bevorzugte Migrationsroute von der nordfranzösischen zur englischen Küste weiter etabliert: Seit Jahresbeginn haben bereits mehr Exilierte Großbritannien auf diese Weise erreicht als im gesamten Jahr 2020. Bis zum Ende des Jahres könnten ihre Zahl auf etwa 22.000 ansteigen. Erneut stehen die Channel crossings im Zentrum einer von konservativen Akteur_innen befeuerten innenpolitischen Debatte in Großbritannien, und immer neue Maßnahmen sollen die Kanalroute schließen. Über ein neues zwischenstaatliches Abkommen haben wir in unserem vorigen Beitrag bereits berichtet. Im neuralgischen Küstenabschnitt um Calais hat inzwischen eine nautische Einheit der CRS ihre Arbeit aufgenommen und der Verkauf von Kraftstoff für Boote wurde polizeilich verboten. Der französische Innenminister Gérald Darmanin brachte bei einem Calais-Besuch den Einsatz von Frontex ins Spiel und eine weitere britisch-französische Vereinbarung verstärkt das Grenzregime in sicherheitspolitischen Fragen. Gleichwohl zeichnet sich ein Scheitern des konservativen Projekts ab, die Migration über die Kanalroute durch eines der restriktivsten Asylgesetze Europas aufhalten zu wollen.
Rekordzahlen und Rettungseinsätze
Als am 21. Juli eine Gruppe von Channel crossers in Dover eintraf, war mit ihnen die Zahl der 8.461 Personen überschritten, die nach der Zählung der BBC im gesamten Jahr 2020 den Ärmelkanal per Boot durchquert hatten. Bereits am 11. Juli hatte es mit fast 350 Passagier_innen ein neues Tagesmaximum gegeben, nachdem an Vortag bereits 254 Menschen eingetroffen waren. Am 19. Juli folgte ein neuer Höchstwert von mindestens 430 Personen, darunter ein Schlauchboot mit rund 50 Personen an Bord.
Am 25. Juli gelangten dann 378 Personen in 12 Booten nach Großbritannien. „Das sind durchschnittlich mehr als 30 Personen pro Boot. Die Boote werden immer größer, die Gefahren auf dem Wasser auch“, merkte der BBC-Reporter Simon Jones hierzu an. Angeblich, so zitiert der Sender den französischen Parlamentarier Pierre-Henri Dumont aus Marck bei Calais, kombinieren professionelle Schmuggler_innen inzwischen aus taktischen Gründen Boote unterschiedlicher Größe, indem sie kleine Boote als Ablenkung einsetzen, damit größere Boote unentdeckt die britische Seegrenze erreichen können. Nach wie vor jedoch werden die Passagiere, wenn sie britisches Hoheitsgebiet erreicht haben, in den meisten Fällen von der britischen Border Force an Bord genommen und an Land gebracht, wo sie in aller Regel Asyl beantragen.
Die aktuellen ‚Rekordzahlen‘, die im August und September rasch in den Schatten gestellt werden dürften, dokumentieren die andauernde Dynamik der Kanalroute und die nach wie vor hohen Erfolgsaussichten derjenigen, die sich zur Überfahrt nach Großbritannien entschlossen haben. Einem Bericht der Times zufolge rechnet die Border Force damit, dass bis Jahresende etwa 22.000 Bootsmigrant_innen die Überfahrt schaffen. Dass die maritime Migration nach Großbritannien ungefähr diese Größenordnung erreichen könnte, deckt sich mit unserer Einschätzung (siehe hier). Voraussetzung für unsere Annahme ist, dass sich der Verlauf des Migrationsgeschehens in der zweiten Jahrshälfte ungefähr so entwickeln wird wie in den Vorjahren, was in der ersten Jahreshälfte der Fall war, und nicht beispielsweise eine Marktsättigung eintritt oder Kapazitätsgrenzen erreicht werden.
Anders als im vergangenen Jahr, sind für dieses Jahr bislang keine Todesfälle dokumentiert. Möglicherweise ist im März ein vermisster Bootspassagier gestorben (siehe hier), doch liegen uns hierüber keine über den damaligen Kenntnistand hinausreichenden Informationen vor. Gleichwohl geraten immer wieder Boote in Seenot, oft bereits zu Beginn der Überfahrt in französischen Hoheitsgewässern. Den französischen Seenotrettung gelingt es in der Regel rasch, die Betroffenen zu bergen. Inzwischen berichten lokale Medien im Raum Calais mehrmals wöchentlich von solchen Rettungseinsätzen, nicht selten von mehreren Einsätzen in einer Nacht.
Einen Eindruck in die aktuelle Situation vermittelt InfoMigrants am Beispiel des 12. Juli: Demnach wurden an diesem Tag insgesamt 123 Personen, die sich auf vier Booten befanden, aus bedrohlichen Situationen geborgen. Auf einem der Boote, das bei Boulogne-sur-Mer in Seenot geraten war, befanden sich 55 Personen, unter ihnen zwei Kinder. Ein anderer Rettungseinsatz war nötig, weil 37 Personen mit einem Schlauchboot auf einer Sandbank bei Dunkerque gestrandet waren. Da die Sandbank mit Rettungsbooten nicht erreichbar war, mussten die Gestandeten per Hubschrauber und die Letzten mit dem Flugzeug geborgen werden, da ansteigendes Wasser die Sandbank zu überfluten drohte (siehe auch Foto oben).
Die Polarisierung des politischen Klimas hat auf britischer Seite inzwischen zu polemischen Attacken auf zivilgesellschaftliche Organisationen geführt und zudem Befürchtungen aufkommen lassen, dass im Zuge der restriktiven Neufassung des Asylrechts auch die Seenotrettung in den britischen Hoheitsgewässern des Ärmelkanals kriminalisiert werden könne.
Ein prominenter Fall betrifft die 1824 gegründete Royal National Lifeboat Institution (RNLI). Der rechte Politiker Nigel Farage hatte am 28. Juli auf GB News behauptet, die RNLI werde von illegalen Schmugglerbanden als „Taxidienst“ genutzt. Sie tue „das Falsche“, indem sie Migrant_innen rette und bewirke dadurch eine „Spaltung der Küstengemeinden“. Die RNLI reagierte entschlossen und ihr Vorsitzender Mark Dowie bekräftigte, dass man jetzt und in Zukunft ohne Ansehen der Person jede_n rette, die oder der in Lebensgefahr sei. Ein dazu am 28. Juli veröffentlichtes Video (siehe unten) zeigt Einsätze der RNLI zur Rettung von Channel crossers. Farages Polemik bewirkte, so der Guardian, zwar, dass einzelne Unterstützer_innen sich von der Rettungsorganisation abwandten. Gleichzeitig erfuhr sie eine breite Solidarisierung und erhielt innerhalb nur eines Tages Spenden in Höhe von übers 200.000 britischen Pfund.
Nautische Operationen von CRS und Gendarmerie
Einsätze zur Rettung schiffbrüchiger Bootspassagier_innen mischen sich auf französischer Seite jedoch zunehmend mit Einsätzen auf See, die nicht der Rettung dienen, sondern einen repressiven Charakter besitzen. Die am 20. Juli von den französischen und britischen Innenminister_innen Gérald Darmanin und Priti Patel unterzeichnete Erklärung (siehe hier) lässt beide Kategorien von Einsätzen weiter verschwimmen, indem sie die Rettung von Menschenleben, die Überwachung des Küstengebiets und das Abfangen der Boote in eins setzt. An der besonders neuralgischen Küste im Raum Calais ist nun erstmals auch die (nicht nur) unter den Exilierten für ihre Gewalttätigkeit berüchtigten Polizeieihiet CRS auf See unterwegs.
So berichtete die Lokalzeitung La voix du Nord am 2. Juli, dass die Generaldirektion der Police nationale, der die CRS-Einheiten unterstehen, das bestehende System der Küstenüberwachung durch eine „Polizeizone“ (zone police) im Bereich von Calais und den Nachbargemeinden Marck, Blériot und Sangatte ergänze. Rund ein Dutzend CRS-Beamte werde seit dem 8. Juni für die Überwachung der Strände und auf See eingesetzt. Ausdrucklich spricht das Blatt von einer „nautischen Mission der CRS“, nachdem eine nautische Einheit der Gendarmerie bereits seit Mitte Mai zwischen Escalles (westlich von Calais) und Dannes (südlich von Boulogne) aktiv sei, also den westlich an Calais angrenzenden Küsten- und Seebereich abdeckt. Die Hauptaufgabe der Mission bestehe darin, das Ablegen der Boote zu verhindern. Unter anderem suchten speziell ausgebildete CRS-Kräfte von zwei Booten aus die Strände mit Ferngläsern und Wärmebildkameras ab. Rettungseinsätze gehörten nicht zu den Aufgaben, allerdings sei das Personal für den Notfall ausgebildet. Der Einsatz werde voraussichtlich bis zum Ende des Sommers dauern.
Bemerkenswert ist ein weiterer Bericht der Zeitung: Demnach sichtete der CRS auf See am frühen Morgen des 12. Juli ein unmotorisiertes Boot mit neun Exilierten an Bord. „Fünf Exilierte entschlossen sich, ins Wasser zu springen, um ans Ufer zurückzuschwimmen, und flohen trotz des Eingreifens von CRS zu Fuß. Die andere vier Migranten, sudanesischer Nationalität, leicht unterkühlt und alle minderjährig, wurden zum Hafen von Calais zurückgebracht und dort von der Feuerwehr und der Grenzpolizei versorgt.“ Genaueres ist nicht bekannt, doch liegt die Vermutung nahe, dass die Präsenz des CRS auf See die Exilierten derart in Schrecken versetzte, dass sie durch einen Sprung ins Wasser zu fliehen versuchten. Nichtsdestoweniger war natürlich ihre Idee, die Passage in einem Boot ohne Motor zu versuchen, schlicht lebensgefährlich und ohne realistische Erfolgsaussicht.
Um das Ablegen der Boote zu erschweren, beschränkte der Präfekt des Departements Pas-de-Calais, Louis Le Franc, außerdem den Verkauf von Benzin und Diesel. Seine am 22. Juli veröffentlichte Verordnung verbietet den „Verkauf und Kauf von mehr als zehn Litern Kraftstoff – Benzin oder Diesel – in transportablen Behältern“. Betreiber von Tankstellen werden verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, und Ausnahmeregelungen für lokale Gewerbetreibende usw. wurden festgelegt. Der Geltungsbereich des Verbots umfasst zahlreiche Gemeinden im Großraum Calais und wird explizit mit der Nutzung dieses Küstenabschnitts als Abfahrtbasis für die Boote begründet. Die Präfektur erweiterte damit die bereits im vergangenen Jahr etablierte Beschränkung des Verkaufs von Schlauchbooten und Ausrüstungsgegenständen und ergänzt ihre Taktik, die Bewohner_innen der Camps durch die Verknappung lebenswichtiger Ressourcen zu zermürben.
Der Ruf nach Frontex und ein weiters Abkommen
Bei einem Besuch in Calais am 24. Juli brachte der französische Innenminister Gérald Darmanin außerdem die Idee eines Frontex-Einsatzes ins Spiel. Sein Besuch datiert wenige Tage nach den britisch-französischen Vereinbarungen vom 20. Juli. Nach der Besichtigung eines Patrouillenboots der Gendarmerie im Hafen von Calais erklärte Darmanin in einem Interview: „Ich selbst habe mich an Frontex gewandt, die sich heute mehr um den Süden Europas kümmert, und ich habe sie gebeten, sich um den Norden Europas zu kümmern, insbesondere um die Küste von Nord-Pas-de-Calais.“ (zit. n. InfoMigrants)
Inzwischen zeichnet sich ab, dass nach der britisch-französischen Vereinbarung auf Ebene der Innenminister_innen vom 20. Juli auch auf Ebene der Außenminister beider Staaten über die Bootspassagen verhandelt wird.
Am 26. Juli unterzeichnete der britische Außenmister Dominic Raab und sein französischer Amtskollegen Jean-Yves Le Drian in Paris ein sicherheitspolitisches Abkommen (UK-France Maritime Security Treaty) in Bezug auf den Ärmelkanal. Das bislang nicht veröffentlichte Dokument bezieht sich nach Angaben der britischen Regierung nicht die Bekämpfung der Bootspassagen, sondern auf terrotistische und andere schwere Vorfälle, welche die Sicherheit gefährden. Als Beispiel genannt wird ein terroristischer Angriff auf eine Kanalfähre oder ein anderes großes Schiff. Allerdings bleibt offen, welche anderen schwerwiegenden Sicherheitsvorfälle (serious security indicents bzw. security threats) gemeint sind und wo die Grenze hin zu migratorischen Ereignissen gezogen wurde, denn immerhin hatte Patels Amtsvorgänger das Aufkommen der Bootspassagen um die Jahreswende 2018/19 als major incident eingestuft und als eine der ersten Gegenmaßnahmen ein Kriegsschiff in den Ärmelkanal beordert. Der Stellenwert des neuen Abkommens im französisch-britischen Grenzregime und seine vielleicht nur mittelbare Bedeutung für die Exilierten bleibt also noch zu untersuchen. Jedenfalls scheint das Thema Boote bei der Pariser Zusammenkunft der beiden Außenminister präsent gewesen zu sein: Medienberichten zufolge sprachen sie neben anderen Themen wie Corona, Klima und Libyen auch über „ongoing work to tackle small boat crossings in the Channel“.
Scheiternde Abschreckung
Die diesjährige Hochsaison der Bootspassagen fällt mit dem Gesetzgebungsverfahren für eines der restriktivsten Asylgesetze Europas zusammen. Nahezu alle zivilgesellschaftlichen Akteur_innen haben sich vehement gegen die Nationality and Borders Bill ausgesprochen, die u.a. die Schaffung eines Straftatbestands der illegalen Einreise beinhaltet. Gleichwohl wurde der Gesetzesentwurf am 20. Juli von der Mehrheit der Abgeordneten des Unterhauses gebilligt, muss im Herbst jedoch noch das Oberhaus passieren. Heftige Kritik an dem Gesetzesvorhaben äußerte neben dem UNHCR unter anderem der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationan Ban Ki-Moon.
Im vorliegenden Kontext wichtig ist, das die von der konservativen Regierung erhoffte Wirkung des Gesetzes auf die Channel migrants vermutlich ausbleiben wird. Diese Einschätzung formulierte u.a. Dominic Johnson in der taz und merkte weiterhin an: „Die Bootsflüchtlinge werden fast alle in britischen Gewässern abgefangen und von ihren Schlauchbooten auf die Schnellboote der britischen Küstenwache transferiert. Die bringt sie dann an die Küste, womit sie rechtlich gesehen nicht illegal einreisen und daher unter dem neuen Gesetz nicht verfolgt werden dürften. Ohnehin hat die britische Generalstaatsanwaltschaft es bereits abgelehnt, das von [Innenministerin] Patel geplante neue Delikt der illegalen Einreise zu verfolgen, da Aufwand, Kosten und Nutzen unverhältnismäßig seien.“
Darmanins Ruf nach Frontex ist vor diesem Hintergrund auch ein Eingeständnis eines Scheiterns. Am Tag nach dem Calais-Besuch des Ministers versuchten über 550 Exilierte, den Kanal zu überqueren. Diese Anekdote ist symptomatisch für eine Grenzpolitik, die angesichts der Dynamik der Kanalroute und der Marktkräfte, die sie für Anbieter_innen kommerzieller Schleusungen entfesselt hat, an der Realität scheitert.