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Channel crossings & UK

Der Monat mit den meisten Passagen

Passage des Ärmelkanals. (Foto: Channel Rescue)

Der September 2021 ist der Monat, in dem seit dem Aufkommen der Kanalroute vor drei Jahren die meisten Exilierten per Boot nach Großbritannien gelangt sind. Seit Monatsbeginn zählten die britischen Behörden laut BBC die Überfahrt von 3.879 Personen. Die Zahl der Bootspassagiere seit Jahresbeginn beträgt nunmehr 16.312. Die Entwicklung war erwartbar, denn bereits im vergangenen Jahr war die Kanalroute im September besonders stark frequentiert, bevor die Passagen im Herbst deutlich zurückgingen. Trotz aller Polizeipräsenz entlang der französischen Nordküste folgt das Migrationsgeschehen also weiterhin dem aus dem vergangenen Jahr bekannten Verlaufsmuster – nur eben in größerem Umfang.

In der zweiten Septemberwoche zirkulierten in britischen Medien Spekulationen darüber, dass zum ersten Mal 1.000 Migrant_innen an einem einzigen Tag den Kanal passiert haben könnten. Das vermeintliche Überschreiten der Tausendergrenze am 6. September passte gut in eine politisch aufgeheizte Stimmung, die durch Ankündigungen und Trainings möglicher künftiger Pushbacks im Vorfeld der Beratungen im House of Lords über ein verschärftes Migrationsrecht noch forciert wurde (siehe hier). Tatsächlich jedoch waren es nicht 1.000, sondern 785 Menschen in 27 Booten, deren Überfahrt am 6. September gemeldet wurde. Immerhin war dies die zweithöchste bislang registrierte Zahl, nachdem es am 21. August über 800 Exilierte geschafft hatten (siehe hier).

Gleichwohl geben solche Rekordwerte das Geschehen nur in verzerrter Form wieder: Zwischen den beiden Tagen lag eine zweiwöchige Schlechtwetterperiode, in der so gut wie keine Boote mit Geflüchteten den Kanal passierten. In den ersten vier Septembertagen war es nur ein einziges Boot mit sieben Menschen an Bord. Erst als sich die Bedingungen für eine Überfahrt verbesserten, stieg die Zahl am 5. September auf 158 und am 6. September auf 785 Personen an. Danach sank sie wieder und schwankte bis zum gestrigen 23. September meist zwischen 50 und 200 Passagieren. An drei Tagen (7., 18. und 22. September) stieg sie auf einen Wert über 400, an zwei anderen Tagen setzten lediglich elf Leute (14. September) oder niemand (23. September) über. Auch hierfür waren die Witterungsverhältnisse ein wesentlicher Grund.

Wie ein Beobachter des Geschehens an der englischen Südküste in einem Gespräch mit diesem Blog berichtete, werden inzwischen teils wesentlich größere Boote für die Kanalpassage genutzt als im vergangenen Jahr. Im Einzelfall könnten sich bis zu 80 Passagier_innen auf einem Boot befinden, in anderen Fällen wiederum seien es nur fünf oder sechs Leute. Teils handle es sich dabei um provisorische, selbst gefertigte und entsprechend unsichere Boote.

Diese Beobachtung wird durch Berichte lokaler französischer Medien bestätigt. So schilderte Ende August ein freiwilliger Mitarbeiter der französischen Seenotrettungsgesellschaft Société nationale de sauvetage en mer (SNSM) seine Befürchtung, bei größeren Booten an technische Grenzen zu stoßen: „Gefährlich wird es, wenn die Boote, denen wir helfen, größer sind als unser eigenes Boot, auf dem leicht achtzig Menschen Platz finden.“ Dabei bezog sich der Seenotretter auf das Küstengebiet bei Berck südlich von Boulogne-sur-mer. Hatte es dort im vergangenen Jahr erst zwei Rettungseinsätze für Boote von Migrant_innen gegeben, seien es seit Jahresbeginn bereits fünf gewesen. Als Grund hierfür nannte der Mann die Ausdehnung der Ablegestellen der Boote „bis ins Calvados“, einem Departement in der Normandie. Häufig steuerten die Boote von dort aus zunächst entlang der französischen Küste nach Norden und bögen in Richtung Großbritannien ab, sobald die englische Küste in Sichtweite komme.

An Tagen, an denen viele Boote nach Großbritannien übersetzen, mehren sich die Rettungseinsätzen in französischen Gewässern. Allein zwischen dem 5. und 9. September wurden an der Küste der Großregion Hauts-de-France, also zwischen Belgien und der Normandie, 198 Exilierte auf See gerettet, am 19. September in den Gewässern vor Calais und Dunkerque über 70 Exilierte und am 20. September vor Dunkerque erneut über 80 Personen, gefolgt von 35 bzw. 50 Personen an den beiden folgenden Tagen. Und am heutigen 24. September meldete die zivilgesellschaftliche Organisation Utopia 56: „Etwa sechzig Menschen haben heute Morgen vor Dünkirchen Schiffbruch erlitten. Sie schwammen zum Ufer. […] Wir stehen ihnen zur Seite und verteilen Rettungsdecken und ein paar Hilfsgüter.“

Exilierte nach einem Schiffbruch vor Dunkerque, 24. September 2021. (Foto: Utopia 56 / Twitter)

Die polizeiliche Überwachung der Küste und ihres Hinterlandes wurde in der Region um Calais, Dunkerque und Boulogne zwar weiter verstärkt, doch ist es angesichts der Länge der inzwischen für Bootspassagen genutzten Küstenlinie illusorisch zu glauben, dass die Kanalroute auf absehbare Zeit ‚geschlossen‘ werden könnte.

Dennoch steht den ablegenden Booten eine große Zahl von Passageversuchen gegenüber, die noch an Land von französischer Polizei und Gendarmerie verhindert werden. Nach Angaben des Präfekten des Departements Pas-de-Calais, Louis Le Franc, wurden allein am 6. September 32 Überfahrten von 813 Personen verhindert, während 14 Boote mit 476 Menschen auslaufen konnten. Der 6. September war der eingangs genannte Tag, an dem über 700 Menschen übersetzten und die Medien später über einen neuen Rekordwert von 1.000 spekulierten. „Seit dem 1. Januar 2021 hat die Präfektur 1.206 Überquerungsversuche an unserer Küste gezählt: 639 von ihnen wurden abgefangen, bevor sie gestartet waren, was etwa 12.000 Migranten entspricht. Umgekehrt zählte die Präfektur 567 Überquerungsversuche, die nicht verhindert werden konnten, was einer Gesamtzahl von 14.000 Migranten entspricht,“ so die Zeitung La voix du nord Anfang September. Nach wie vor gelingen also mehr Überfahren, als solche verhindert werden können.

Bislang sind in diesem Jahr weniger Menschen bei der Passage des Ärmelkanals gestorben als im vergangenen Jahr. Allerdings war es erst im Oktober 2020 zu einer Häufung von Todesfällen gekommen, darunter am 27. Oktober eine Havarie, bei der sieben Menschen ertranken (siehe hier). Mit dem Beginn des Herbstes steht nun erneut eine riskante Phase bevor.

[Update, 3. Oktober 2021] Während des gesamten September passierten 4.653 Migrant_innen den Ärmelkanal in Booten. Die Gesamtzahl seit Jahresbeginn stieg auf 17.063 Personen.