Während der Tod von 27 Menschen im Ärmelkanal internationale Aufmerksamkeit erfährt, werden allmählich genauere Informationen über die Opfer bekannt. Demnach handelte es sich vor allem um irakische bzw. iranische Kurd_innen. Nach Angaben der französischen Behörden starben 17 Männer, sieben Frauen und drei Minderjährige; eine der Frauen war offenbar schwanger. In Sangatte bei Calais wurde außerdem die Leiche einer weiteren Person angespült, möglicherweise ebenfalls ein Geflüchteter, der bei einem früheren Passageversuch das Leben verloren haben könnte. Aber auch dies ist wie vieles andere momentan noch unklar. Hier eine weitere Überblick über die Situation einen Tag nach der Havarie.
Der französische Blog InfoMigrants veröffentlichte eine Zusammenstellung der bislang bekannten Infomationen, auf die wir uns im Folgenden weitgehend stützen. Das havarierte Boot soll demnach ein überladenes Schlauchboot mit weichem Rumpf gewesen sein, ein Bootstyp, der im Laufe des Sommers vermehrt von Schleuser_innen eingesetzt worden sei. Vermutlich legte das Boot bei Dunkerque ab, was zu der Information passt, dass die Toten vor allem aus dem kurdischen Norden des Irak kamen – Menschen aus dieser Region befinden sich vor allem in den Camps von Dunkerques Nachbargemeinde Grande-Synthe. Berichtet wird auch von zwei Überlebenden aus dem Irak und Somalia, die mit starker Unterkühlung im Krankenhaus von Calais behandelt würden.
Nach der Havarie hatten verschiedene Medien vermutet, dass das Schlauchboot mit einem Containerschiff kollidiert sein könne. In der Lokalzeitung La Voix du Nord argumentierte der Seemann Marc Ottini gegen diese Vermutung: „Ich bin sehr zwiegespalten, was diese Kollisionsgeschichte angeht. Man könnte sogar sagen, dass ich nicht daran glaube! Wenn sich der Vorfall nachts ereignet hätte, hätte ich weniger Zweifel. Denn nachts kann ein 300 oder 400 Meter langes Containerschiff, wie die Schiffe, die jeden Tag durch die Meerenge fahren, kein kleines Boot sehen, das zwangsläufig nicht beleuchtet ist. Migrantenboote sind nicht mit Radarreflektoren ausgestattet, es ist unmöglich, sie zu erkennen, wenn man navigiert. […] Wenn man sich auf den Zeitpunkt der Alarmierung bezieht, also 14 Uhr, war es taghell und, aber das muss noch überprüft werden, es gab keinen Nebel.“ Die Auf die Frage der Zeitung nach der vermuteten Ursache der Havarie sagte Ottini: „Das Boot sah nach den Informationen, die wir haben, ausgesprochen fragil aus. Es scheint kein starres Boot zu sein, sondern ein aufblasbares Boot mit einem weichen Boden […] Es könnte sein, dass das Boot aufgrund einer Welle gekentert ist, die durch ein größeres Boot in der Nähe ausgelöst wurde.“ Das Risiko solcher Unfälle werde von Schleusern in Kauf genommen.
Nach der Havarie sollen inzwischen fünf mutmaßliche Schleuser festgenommen worden sein. Dem französischen Innenminister zufolge habe einer der Festgenommenen ein deutsches Autokennzeichen gehabt und das Boot sei „in Deutschland gekauft“ worden. Die Festnahme der Schleuser spielte in der politischen Rhetorik des französischen Innenministers Gérald Darmanin nach der Havarie eine zentrale Rolle und wurde auch von Emmanuel Macron genutzt, um eine zwischenstaatliche bzw. europäische Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Schleuserwesens einzufordern. Einen Tag später meldete die Lokalzeitung La Voix du Nord unter Berufung auf die Ermittlungsbehörden in Lille, dass die fünf festgenommenen Schleuser nichts mit der Havarie zu tun haben.
In Calais besteht mit der Groupe Décès ein Kollektiv aus Mitgliedern von Médecins du Monde, Utopia 56, Secours Catholique und Solidarity Border, die sich parallel zu den Behörden um die Identifikation der Toten kümmert. In einer aktuellen Erklärung wandte sie sich wie nahezu alle zivilgesellschaftlichen Akteure gegen die Schuldzuschreibung an Schleuser_innen und betonte die Verantwortung der staatlichen Grenzpolitiken für die mehr als 300 Todesfälle der vergangenen beiden Jahrzehnte. Bereits nach früheren Todesfällen haben diese Aktivist_innen sich auch darum gekümmert, Kontakt zu den Hinterbliebenen aufzunehmen, bei der Organisation der Beisetzung und gegebenenfalls bei der Überführung in die Heimat behilflich zu sein. Angesichts der großen Zahl der Todesopfer „wissen wir nicht, wie wir es schaffen sollen“, erklärte die Aktivistin Maya Konforti hierzu. „Es wird sehr, sehr kompliziert und auch sehr, sehr teuer werden. […] Wir waren sicher, dass dies eines Tages passieren würde, aber bis jetzt … wenn es Todesfälle gab, waren es immer nur ein oder zwei, aber dies ist eine Katastrophe.“ (zit. n. Guardian, 25.11.2021)
Unter anderem in Calais, Dunkerque, Paris und London – dort vor dem Innenministerium – waren für den heutigen Tag Kundgebungen zum Gedenken an die Opfer stattgefunden und gegen die repressive Grenz- und Migrationspolitik angekündigt.
Am gleichen Tag meldere die Lokalzeitung La Voix du Nord einen Leichenfund am Strand zwischen Blériot und Sangatte westlich von Calais. Offenbar befand sich der Körper bereits in einem fortgeschrittenen Zustand der Verwesung, sodass es sich nicht um ein weiteres Opfer der Havarie am Vortag handeln kann. Auch scheint momentan noch unklar zu sein, ob es sich überhaupt um einen Geflüchteten handelt.