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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Der Abfluss der EU- Migrationskrise – Eindrücke einer Recherche

Wenn man nach langer, zu langer Pause wieder an den Ärmelkanal kommt, ist das eine seltsame Ambivalenz. Einerseits hat sich die Geografie verändert, man bewegt sich nicht mehr selbstverständlich, sondern muss sich die Situation erst wieder neu erschließen. Gerade dieser Abstand aber, aus dem man sich dann erneut heranzoomt an den Alltag der repressiven Elendsverwaltung, aus Räumungen und Schikanen, bietet die Möglichkeit einer Aktualisierung der eigenen Analyse. Im Folgenden einige Punkte, die sich aus der zurückliegenden Woche in Calais und Grande-Synthe ergeben.

In Calais. (Foto: Tobias Müller)

Wenn Randständigkeit Abstufungen kennt, dann ist es in den letzten Jahren gelungen, das Phänomen der Transitmigration in all seinen Erscheinungsformen so ziemlich maximal an den Rand zu drängen. Die bestehenden Communities sind nicht nur räumlich weit ab von den Stadtzentren, sondern auch isoliert voneinander, und so nimmt man sie auch wahr: kleine Grüppchen hier, andere dort, Objekte der behördlichen Politik zur Routine gewordener Willkür. Das Verbot (siehe hier) für associations / NGOs, in Calais Essen und Trinken auszuteilen, hat in diesem Sinn einen weiteren Effekt: man schaltet damit ein mögliches soziales Amalgam zwischen verschienenen Grupen Geflüchteter aus.

Besagte Räumungen (siehe hier) sind zweifellos Symbolpolitik für die Galerie, halten aber zugleich jene, die ihnen ausgesetzt sind, an einer besonders kurzen Leine, indem man regelmäßig und alle 48 Stunden in das letzte verbliebene Stück ihrer Intimität und Privatsphäre eingreift. Dass sich Politiker zusehends von der Zerstörung von Zelten oder Schlafsäcken distanzieren (siehe hier), ist vor diesem Hintergrund nicht nur wohlfeil, sondern auch kosmetisch. An der konstanten emotionalen Zwangsjacke der Räumungs-Routine ändert dies wenig. Sinnbild dessen sind die “four blue vans” der Gendarmerie und der sie begleitenden zivilen Schergen der Präfektur. Alle in der Stadt wissen, wie spät es ist, wenn diese Busse irgendwo um die Ecke kommen.

Dass dieses Vorgehen zu fundamentalen Menschenrechten massiv im Konflikt steht, ist hinreichend dokumentiert. Der repressive Charakter weitet sich zunehmend auch auf NGO und MedienvertreterInnen aus. Sowohl bei einer der Routine-Räumungen am Stadtkanal von Calais als bei einer großen Aktion, bei der am Donnerstag einer der neuen Jungles nahe des Puythouck-Einkaufszentrums in Grande-Synthe zerstört wurde, hielten Gendarmerie bzw. CRS mehrere Journalisten oder Vertreterinnen der associations auf Abstand. Bei einer anderen Routine-Räumung an selber Stelle, am Quai de la Tamise in Calais, reagierten die Gendarmen aggressiv und einschüchternd auf eine Vertreterin der Human Rights Observers, die fotografierte, wie ein konfiszierters Zelt oder Schlafsack in den begleitenden weißen Abfallwagen gesteckt wurde.

(Foto: Tobias Müller)

Am Ärmelkanal verdichten sich zusehends Elemente der latenten europäischen Migrationskrise. Wie wir seit der Gründung dieses Blogs mehrfach diskutierten, trifft man etwa verstärkt auf Personen, die kein Englisch, dafür aber – zumeist fließend – Deutsch sprechen. Ergebnis eines faktischen Integrationsprozesses, dem mit dem fehlenden Aufenthaltstitel jedoch die rechtliche Grundlage entzogen wurde. Deutschland ist dabei nur eines, wenngleich das am häufigsten vertretene, der Länder, aus denen sich Geflüchtete nach Ablehnung ihres Asylantrags auf den Weg an den Kanal machen. Belgien, die Niederlande oder die Schweiz sind ebenfalls vertreten. ‚UK‘ das zur Sehnsuchtsformel verklärte Land auf der anderen Seite des Kanals, ist damit nicht nur ein vollkommen überhöhter Mythos, sondern auch ein letzter Ausweg, die letzte Option, um den Traum oder das Ziel vom Leben in Europa noch zu verwirklichen, und zwar für jene, die anderswo nicht zugelassen wurden oder ihre Fingerabdrücke lassen mussten und daher von vorneherein keine Chance haben. Die Elendscamps am Kanal werden damit zum Abfluss einer EU- Migrationspolitik, die auf dem Dublin-Abkommen basiert.

(Foto: Tobias Müller)

Weiterhin zeigen auch die am Kanal anwesenden, vor den Taliban Geflüchteten oder die zahlreichen über Belarus eingereisten irakischen KurdInnen, dass Calais bzw. Dunkerque einen festen Platz im System globaler Migrationsrouten einnehmen. Während sich unser Blog einerseits auf die Entwicklungen am Ärmelkanal bezieht, wäre es grundsätzlich äußerst wichtig, verlässliche Informationen zu den Zuständen an der weißrussischen Grenze zu bekommen – je früher, desto besser.

Wie sich die generelle Situation in der Region Calais / Dunkerque / Boulogne nach der Tragödie (siehe hier) vom 24. November entwickelt, bleibt abzuwarten. Möglicherweise befinden wir uns in einer der einschneidenden Situationen wie nach der Jungle-Räumung 2016, in denen sich das Feld neu ordnet. In der letzten Woche war das Wetter extrem schlecht , sodass mit einiger Sicherheit gesagt werden kann, dass es keine Bootspassagen gab. Dass diese nach dem Unglück auf nahezu Null zurückgingen, lässt sich auch aus Kommentaren der Seenotrettung CROSS, der britischen Channel Rescue sowie der Dunkerque-Sektion von Utopia56 folgern, deren Notfall-Telefon vor dem 24.11. regelmäßig angerufen wurde. Sobald sich das Wetter bessert, wird sich zeigen, in welche Richtung sich die Szenerie entwickelt.

(Foto: Tobias Müller)

Wie wir bereits früher analysierten (siehe hier), scheint eine Verbesserung der humanitären Situation nicht zu den von der EU anvisierten Konsequenzen des 24.11. zu zählen. VertreterInnen von associations vor Ort bestätigten mehrfach, dass sich seit dem Tod der 27 MigrantInnen nichts verändert habe. Die routinemäßige, institutionalisierte Repression sowie das zunehmend autoritäre Auftreten gegen MenschenrechtsaktivsitInnen und Medien lässt eher folgern, dass eine weitere Aushöhlung von Grundrechten bereits im Gang ist. Was den EU-Diskurs zu den Zuständen an ihrer Außengrenze betrifft, ist es damit höchste Zeit, den auf den (Süd-)Osten gerichteten Blick auch nach Westen zu richten.

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