Durch die tägliche Präsenz von Human Rights Obervers (HRO) sind wir in der Lage, nicht nur das momentane Ausmaß der Räumungspolitik in Calais und Grande-Synthe zu verfolgen. Das Datenmaterial ermöglicht es auch, Entwicklungen über längere Zeiträume zu analysieren. Dabei wird einmal mehr sichtbar, mit welch hohem logistischen Aufwand die elenden Lebensverhältnisse der Exilierten hergestellt werden und welch eine zentrale Rolle der Ressourcenentzug dabei spielt. Konkret liegt die Zahl der dokumentierten Räumungen allein in Calais über 1.200. Bei diesen Aktionen wurden in Calais und Grande-Synthe rund 10.000 Zelte und Schutzplanen, über 3.000 Schlafsäcke und Decken und über 600 Rucksäcke bzw. Taschen beschlagnahmt. Dies ist das Zwei- bis Dreifache der Menge von 2020 nud ein Vielfaches von 2019 (siehe hier und hier). Doch diese Verschärfung der Lage ist nicht alles: Auch der Solidaritäts-Hungerstreik dreier Aktivist_innen im vergangenen Herbst scheint in den Datenreihen eine Spur hinterlassen haben.
Aus den monatlich veröffentlichten Zahlen von HRO geht hervor, dass 2021 in Calais mindestens 1.219 Räumungen und in Grande-Synthe weitere 57 Räumungen stattgefunden haben. Im Vorjahr waren in Calais 967 und in Grande-Synthe 91 Räumungen dokumentiert worden. Allerdings war die Arbeit der HRO-Teams zu Beginn der Corona-Pandemie nur eingeschränkt möglich gewesen, sodass die tatsächliche Zahl höher gelegen haben dürfte. Dennoch lässt sich feststellen, dass in Calais die Anzahl, in Grande-Synthe hingegen die Größe der Räumungen zugenommen haben.
In Calais handelt es sich meist, aber nicht ausschließlich, um die schon oft beschriebenen Räumungen im 48 Stunden-Turnus, von denen meist mehrere Camps nacheinander betroffen sind – was die hohe Zahl erklärt. Bekanntlich zielt dieser Typ von Räumungen nicht auf die Schließung eines Siedlungsplatzes, sondern zwingt die Bewohner_innen dazu, ihr Camp immer wieder ab- und wiederaufzubauen, um ihr Eigentum nicht durch Beschlagnahme zu verlieren. Im Verlauf des Jahres geschah dies zunächst knapp hundertmal im Monat: Seit Oktober steigt die Zahl auf 114 im November und 125 im Dezember an.
Ungleich stärker nahm in Calais die Menge der beschlagnahmten Güter zu. Während der Frühjahrs- und Sommermonate waren es so viele wie noch nie seit der Räumung des historischen Jungle of Calais im Jahr 2016. Allein im April wurden 1.113 Zelte/Plänen, 803 Schlafsäcke/Decken und 100 Rucksäcke/Taschen und im Juli 1.016 Zelte/Planen, 499 Schlafsäcke/Decken und 97 Rucksäcke/Taschen beschlagnahmt. Die Behörden waren in dieser Phase zu einem unregelmäßigeren Turnus übergegangen, der die Räumungen weniger vorhersehbar machte und es den Betroffenen erschwerte, ihre Sachen rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Insgesamt wurden in Calais über das Jahr hinweg 5.794 Zelte/Planen, 2.769 Schlafsäcke/Decken, 630 Rucksäcke/Taschen, 222 Matratzen, 99 Fahrräder sowie in 200 Fällen Kleidung und in 21 Fällen Brennholz beschlagnahmt. Hinzu kamen Mobiltelefone und Zubehör, darunter 200 Powerbanks, ein Stromgenerator, Nahrungsmittel und manches mehr. Ein Teil der Güter wurde zwischengelagert und konnte unter bestimmten Bedingungen von den Eigentümer_innen zurückgefordert werden, während der Rest sofort auf der Deponie landete. In den Herbstmonaten jedoch, als die Anzahl der Räumungen zunahm, ging der Umfang der Beschlagnahumgen stark zurück und war im November so gering wie in keinem anderen Monat.
Mehrere Gründe können diese Entwicklung bewirkt haben. So hatten die zivilgesellschaftlichen Organisationen Probleme, den in die Höhe getriebenen Bedarf an Zelten und anderen Hilfsgütern noch zu decken. Allerdings dürfte auch der in dieser Zeit durchgeführte Hungerstreik seine Wirkung entfaltet haben. Die Hungerstreikenden hatten den Blick einer breiten Öffentlichkeit auf die Räumungs- und Beschlagnahmepraxis gelenkt, eine Aussetzung zumindest während des Winters verlangt und einen politischen Dialog über die Modalitäten zivilgesellschaftlicher Hilfe eingefordert. Ein Mediator des Innenministeriums hatte einige Modifikationen der Verfahrensweise in Aussicht gestellt, darunter die rechtzeitige Ankündigung der Räumungen, damit die Betroffenen ihre Sachen an sich nehmen könnten, sowie verbesserte Möglichkeiten zur Rückforderung. Die politische Konstellation dieser am Ende gescheiterten Verhandlungsphase sowie die Aufmerkamkeit nationaler wie internationaler Medien dürfte die Behörden zur Zurückhaltung bewegt haben.
Dass sie währenddessen die Zahl der Räumungen erhöhten und vor allem nach dem Abbruch des Hungerstreiks mit zunehmender Härte vorgingen, steht dazu nicht im Widerspruch. Als ein Akt symbolpolitischer Kommunikation verstanden, signalisiert dies ein kategorisches Nein zu den Kernforderungen der Hungerstreikenden: Räumungen und Beschlagnahmungen seien nicht verhandelbar. Am Ende des Jahres mündete dies in einer Reihe rigoroser Polizeioperationen, aber auch in der aktiven Gegenwehr eines stark unter Druck gesetzten Camps (siehe hier). Seither dokumentierte HRO eine Reihe weiterer heftiger Räumungsprozeduren.
Für Grande-Synthe zeigen die HRO-Daten einen anderen zeitlichen Verlauf als in Calais. Beschlagnahmungen großer Mengen an Zelten gab es dort während des gesamten Jahres. Mit dem Anwachsen der Camps zu großen Zelt- und Hüttensiedlungen nahm auch die Massivität der Räumungen zu. Mehrmals beobachteten die HRO-Teams, dass bei großen Räumungen sämtliche Schlafsäcke, Decken, Kleidungsstücke usw. aus den Zelten gerissen und in den für Grande-Synthe typischen Schlamm geworfen wurden, wo Einsatz- und Reinigungskräfte dann über sie hinwegliefen. Immer wieder wurde den Bewohner_innen verweigert, ihre Sachen zu bergen. Auch während des Calaiser Hungerstreiks finden sich Beispiele für diese Routinen, während ein Detail zurückgenommen wurde: das Zerschneiden der Zelte mit Messern (siehe hier).
Insgesamt wurde in Grande-Synthe die Beschlagnahme von 4.057 Zelten/Planen, 395 Schlafsäcken/Decken und einer Reihe weiterer Gegenstände einschließlich 13 Kinderwagen dokumentiert. Allerdings dürfte die tatsächliche Zahl zerstörter Schlafsäcke, Decken, Taschen, Kleidungsstücke usw. aufgrund der oben beschriebenen Vorgehensweise bedeutend größer sein. Auch Versorgungsinfrastrukturen waren betroffen: So wurden im Dezember zwei Wasserbehälter und sämtliche Duschen zerstört.
Die HRO-Zahlen dokumentieren einmal mehr den menschenrechtspolitischen Skandal im Zentrum der EU und an ihrer neuen nordwestlichen Außengrenze. Sie belegen eine Verdopplung bis Verdreifachung der Beschlagnahmungen und unterstreichen damit, dass die Räumungen nicht allein auf Verdrängung und Zermürbung, sondern vielleicht sogar in erster Linie auf den Entzug materieller Ressourcen zielen. Sie erweisen sich als der Motor einer absurden Ökonomie, der nicht allein die Exilierten, sondern auch die zivilgesellschaftlichen Strukturen unter Stress setzt.
Wie in den Vorjahren, dürfte HRO in den kommenden Monaten noch eine eigene, ausführliche Analyse der ermittelten Daten vorlegen. Wir werden darüber berichten.