Hatten im Januar überraschend viele Migrant_innen den Ärmelkanal in unsicheren Booten passiert (siehe hier), so unterbrachen die heftigen Stürme im Februar den irregulären Verkehr nach Großbritannien für einige Wochen. Nach ihrem Abklingen zeigt sich nun, dass noch nie so viele Menschen diesen lebensgefährlichen Migrationspfad während des Winters passierten als in diesem Jahr. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass sich die von Jahr zu Jahr stärkere Frequentierung der Kanalroute auch in diesem Jahr fortsetzen wird.
Dass die Zahl von Bootspassagier_innen nach witterungsbedingten Unterbrechungen kurzfristig stark ansteigt, ist wenig überraschend. So auch nach dem Ende der Sturmsaison im Februar: Am 26. Februar erreichten vier Boote mit 132 Passagier_innen britisches Hoheitsgebiet, gefolgt von insgesamt 21 Booten mit 631 Personen in den ersten drei Märztagen. In der Mitte des Monats erreichte erneut eine große Zahl von Exilierten die britische Seite des Ärmelkanals: Auf einzelne Passagen am 14. März folgten 405 Personen in zwölf Booten am 15. März, 279 Personen auf neun Booten am 16. März und eine noch nicht bekannte, aber vermutlich ebenfalls hohe Zahl in den folgenden Tagen (alle Angaben laut dem BBC-Journalisten Simon Jones).
Die 405 Menschen, die am 15. März übersetzten, markieren ein erstes großes Tagesmaximum in diesem Jahr. Ihnen standen 538 Menschen gegenüber, deren Übersetzen die französischen Behörden verhinderten, was gewöhnlich vor dem Inseestechen der Boote, also am Strand oder im Hinterland, geschieht. An diesem Tag waren damit also um die tausend Menschen unterwegs, um per Boot nach Großbritannien zu gelangen.
Die Zahl der erfolgreichen Channel migrants stieg damit laut BBC auf über 2600 seit Jahresbeginn. Nicht mitgerechnet in dieser Zahl sind die knapp 300 Personen des Folgetages und die seither angelandeten Menschen. Zum Vergleich: Bis zum 24. März 2021 hatten die britischen Behörden die Ankunft von 1045 Bootsmigrant_innen registriert. Gegenüber dem Vorjahr hat sich die Zahl also ungefähr verdreifacht, und bereits vor einem Jahr war eine Verdreifachung gegenüber dem Jahr 2020 festzustellen (siehe hier).
Ein Grund für die zahlreichen Passagen Mitte März dieses Jahres ist die ausgesprochen günstige Witterung. Wir befanden uns zu diesem Zeitpunkt auf einer Recherchereise an der nordfranzösischen Küste: Bei klarem Himmel lag die See mit minimalem Wellengang da, und die mit dem Vollmond korrelierende Springtide reduzierte die Distanz zwischen Dünen und See auf ein Minimum: Sie verkleinerte damit den Raum, in dem die französischen Polizei- und Gendarmeriepatrouillen ein Boot beim Überqueren der mitunter sehr breiten Strände noch abfangen können, denn bereits in See gestochene Boote werden nicht aktiv am Weiterfahren gehindert.
Wiederkehrende günstigen Bedingungen wie diese erklären zwar die Häufung an bestimmten Tagen, nicht aber die abermalige Verdreifachung der Passagierzahlen gegenüber dem Vorjahr. Diese repräsentiert vielmehr einen kontinuierlichen Trend, der durch die zahlreichen symbolischen und materiellen Maßnahmen zur Bekämpfung der Bootspassagen zu keinem Zeitpunkt gestoppt werden konnte. Trotz (und wegen) einer erkennbar stärkeren Kontrolldichte an den neuralgischen Küstenabschnitten konnten sich die Anbieter kommerzieller Schleusungen den veränderten Bedingungen effektiv anpassen. Im Gegensatz zu selbstorganisierten Gruppen oder lokalen Gelegenheitsschmugglern sind die teils mafiosen Akteure eher in der Lage, den erhöhten logistischen Aufwand zu leisten. Bei Recherchen vor Ort erfuhren wir zudem, dass sich der Preis für einen Platz auf einem kommerziell bereitgestellten Boot sogar verringert hat. Er soll momentan bei etwa 1.500 bis 2.000 € liegen, während ein professionell vorbereitetes Versteck auf einem Lastewagen für rund 3.000 € gehandelt wird. Als wir vor rund drei Jahren zum ersten Mal über die Bootspassagen recherchierten, wurde der Preis für einen Platz auf einem Boot mit rund 3.000 € beziffert. Hinzu kommen der Einsatz billiger, minderwertiger, untermotorisierter und überladener Boote, sodass das Überleben der Passagiere von oft genug vom Funktionieren der Seenotrettung abhängt (siehe hier).
Die ersten drei Monate dieses Jahres lassen also vermuten, dass die Zahl der Bootspassagen im Jahr 2022 die 28.526 dokumentierten Ankünfte des Vorjahres übersteigen wird. Wie an dieser Stelle schon mehrfach dargestellt, dürften die Passagen gefährlicher werden und die Abhängigkeit der Betroffenen von mafiosen Strukturen zunehmen. In weiter Ferne liegt indes die politische Anerkennung der Tatsache, dass sich menschliche Mobilität nicht an Grenzen bricht und nicht durch Grenzen gebrochen werden kann, ohne die Menschen selbst zu brechen.