Die Frequentierung der Kanalroute nimmt weiterhin stark zu. Nachdem das britische Verteidigungsministerium am gestrigen 13. August die Ankunft von 604 Personen in 14 Booten bestätigte, liegt die Gesamtzahl der Bootspassagier_innen seit Jahresbeginn nun über 20.000. Im vergangenen Jahr war diese Zahl erst Anfang November erreicht worden (siehe hier) und ein weiteres Jahr zuvor waren es während des gesamten Jahres weniger als zehntausend Personen gewesen. Die Ankündigungen der konservativen britischen Regierung, den Markt für kommerziell angebotene Bootspassagen durch immer existenziellere Maßnahmen gegen die Exilierten austrocknen zu wollen, erweisen sich erneut als Wunschdenken.
Es ist absehbar, dass die Zahl der Bootspassagen in einigen Monaten den bisherigen Höchstwert von über 28.000 Passagen im Gesamtjahr 2021 übersteigen wird. Dabei folgt die Dynamik der Bootspassagen inzwischen wieder stärker dem jahreszeitlichen Verlauf, wie er in den Vorjahren zu beobachten war. Diese Feststellung ist wichtig, denn im Spätherbst 2021 und Winter 2021/22 hatte es eine unerwartete Entwicklung gegeben: Im November war die Zahl der Passagen nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, stark zurückgegangen, sondern hatte trotz der jahreszeitlichen Risiken stark zugenommen und war während der Wintermonate vergleichsweise hoch geblieben (siehe hier, hier, hier und hier). Diese untypische Entwicklung scheint nun vorüber zu sein. Momentan beträgt Zunahme gegenüber dem Vorjahr knapp das Doppelte (1. Januar bis 1. August 2022: etwa 17.000 Passagier_innen; gleicher Vorjahreszeitraum: etwa 9.500 Passagier_innen), aber nicht mehr das Dreifache wie am Ende des vergangenen Jahres.
Etwa drei Viertel der in diesem Jahr registrierten Passagen entfallen auf den Zeitraum nach den migrationspolitischen Einschnitten von April 2022 (Übertragung der Zuständigkeit für die Bekämpfung der Passagen an das Militär, Unterzeichnung des britisch-ruandischen Migrationsdeals und Verabschiedung des Nationality and Borders Act). Dies belegt eindrucksvoll, dass die britische Regierung zwar Ängste in den nordfranzösischen Camps schüren und wichtige Wege für eine menschenwürdige Existenz in Großbritannien verbauen kann. Die Entscheidung, in Großbritannien Zuflucht zu suchen, tangiert diese Politik aber offensichtlich kaum.
Die Passage erfolgt weiterhin zumeist in Schlauchbooten, auf denen sich momentan durchschnittlich etwa 35 bis 50 Menschen befinden. Der bislang am stärksten frequentierte Monat war der Juli, in dem 3.683 Menschen in 90 Booten britisches Hoheitsgebiet erreichten. Am 1. August registrierten die Behörden mit 696 Personen die seit Jahresbeginn größte Zahl pro Tag. Insgesamt lag die Zahl der Passagiere in diesem Jahr an drei Tagen über 600 (außer dem 1. August waren es der 13. April mit 651 Menschen und der 13. August mit 607 Menschen). Im vergangenen Jahr hatten an besonders stark frequentierten Tagen über tausend Personen die Seegrenze passiert.
Seit Jahresbeginn ist ein Todesfall auf See bekannt geworden. Ein junger Mann aus dem Sudan starb am 14. Januar nach einer Havarie vor Berck-sur-Mer südlich von Boulogne (siehe hier). Dem gegenüber stehen mindestens 31 Todesfälle auf See im Vorjahr und eine im vergangenen Herbst einsetzende Serie von fast monatlichen Todesfällen im Kontext der nordfranzösischen Camps, der dortigen Lebensbedingungen und der Migration per Lastwagen. Allerdings stehen die nach den Erfahrungen der Vorjahre besonders risikoreichen Herbstmonate noch bevor. Die Boote sind weiterhin nicht ausreichend ausgerüstet und es besteht die Gefahr, auch bei einer erfolgreichen Passage etwa Unterkühlungen, Verätzungen oder Traumatisierungen zu erleiden.
Etwas andere Zahlen zur Frequentierung der Kanalroute finden sich auf französischer Seite. Presseberichten zufolge registrierte die Préfecture maritime de la Manche et de la mer du Nord (PREMAR; Seepräfektur für den Ärmelkanal und die Nordsee) seit Jahresbeginn Passagen von 18.763 Migrant_innen – etwa 50 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres –, von denen 3.166 auf See gerettet und nach Frankreich zurückgebracht worden seien. Nach dieser Zählung haben nicht 20.000, sondern knapp 16.000 Personen Großbritannien erreicht. Die erhebliche Diskrepanz der Daten scheint aus unterschiedlichen Erfassungsmethoden zu resulieren. Die Zeitung La voix du Nord verweist auf eine Aussage des Seepräfekten von Januar, „dass die Briten und Franzosen diese Überfahrten nicht auf die gleiche Weise zählen. ‚Wir machen das jeden Tag in Echtzeit, indem wir die Informationen mit den Briten abgleichen. Dann stoppen wir die Zählung. Die Briten integrieren ihrerseits Personen drei, vier Tage nach ihrer Ankunft.‘“