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Ein Jahr nach der Havarie

Die Havarie vom 24. November 2021

Es ist der Nachmittag des 24. November 2021, als ein Fischer die regionale Einsatzzentrale für maritime Überwachung und Rettung (CROSS) Gris-Nez über 15 an der Wasseroberfläche treibende Leichen verständigte. Wie sich später herausstellt, starben in der Nacht vom 23. auf den 24. November 2021 27 Personen, 4 sind noch immer vermisst, nur 2 Personen überlebten. Die Havarie vom 24. November 2021 ist das tödlichste Unglück an der französisch-britischen Grenze seit 2019, als 39 vietnamesische Exilierte tot in einem Lastwagen gefunden wurden.

„Äh, wir sind gerade an, äh, Migranten vorbeigefahren, äh, na ja, an Leichen. Sie sind tot.“ + „Okay, Sir, also sind die Migranten in einem Boot? Sehen sie für Sie wie delta charlie delta [tot] aus.“ + „Nein nein nein. Sie sind im Wasser, sie sind im Wasser, aber, äh, sie sind tot“.

Le Figaro, übersetzt aus dem Französischen

Die politischen Reaktionen auf die Havarie vor einem Jahr waren sehr deutlich – der französische Präsident Emmanuel Macron lies verlauten, dass “ Frankreich nicht zulassen (werde), dass der Ärmelkanal zu einem Friedhof wird“ (siehe hier). Der damalige französische Premierminister Jean Castex, sowie der damalige britische Premierminister Boris Johnson beriefen interministerielle Krisensitzungen ein und befanden die bis dato angewandten Grenzpraktiken zur Verhinderung von Bootspassagen als unzureichend. Auch wenn sich britische und französische Stellen gegenseitig die Schuld an dem Unglück gaben und es zu Disputen kam, waren sich politische Akteure auf beiden Seiten in Einem einig – verstärkte Anstrengungen müssten unternommen werden, um Schleuser*innen zu stoppen (siehe hier und hier).

„Du wirst nicht gerettet“ – Rekonstruktionen von unterlassener Hilfe

Ein Jahr nach dem Unglück ist die Frage der Verantwortung an der Havarie noch immer präsent und erhält mit der Veröffentlichung von ersten Dokumenten der juristischen Ermittlungen zur Aufklärung der Tragödie schärfere Konturen. Die Dokumente, welche zuerst der Zeitung Le Monde vorlagen, zeigen die Kommunikation zwischen dem französischen Kontrollraum in Cap Gris-Nez (CROSS) und dem schiffbrüchigen Boot und ermöglichen es, den Verlauf der Havarie besser zu rekonstruieren (siehe hier, hier und hier).

Den Protokollen zufolge, ging der erste Notruf um 01.48 Uhr am 24. November 2021 im Kontrollraum von Cap Gris-Nez ein. Die Passagiere wurden demnach gebeten, ihren aktuellen Standort über ihr Handy zu teilen. Als der Standort circa 15 Minuten später im französischen Kontrollraum einging, befand sich das Boot mehr als eine halbe Meile in französischen Gewässern. Wie weiter aus den Unterlagen hervorgeht, benachrichtigte die französische Einsatzstelle daraufhin die britische Küstenwache in Dover und informierte sie, nachdem die französische Stelle aktualisierte Koordinaten des Bootes erhalten hatten, dass sich das Boot nun in britischen Gewässern befände. Die britische Stelle teilte kurz darauf mit, dass sie versucht hätten einen der Passagiere anzurufen, aber ein französisches Wahlzeichen erhielten und sich die Position des Bootes deshalb noch in französischen Gewässern verorten ließe. Die französischen Rettungskräften verwiesen die Passagiere in Seenot jedoch weiterhin an die britischen Rettungsdienste.

Das Transkript eines Telefonates zwischen einer Mitarbeiterin der französischen Rettungsstelle und einem Schiffbrüchigen, zeigt die Banalisierung der Gefahr und das Fehlen von Empathie mit den sich in Seenot befinden Menschen – „Bitte helfen Sie mir (…) ich bin im Wasser“, sagt die sich in Seenot befindende Person. „Ja, aber Sie sind in englischen Gewässern, Sir“, antwortet die Mitarbeiterin der CROSS. „Nein, nein, nicht in englischen Gewässern, in französischen Gewässern, bitte können Sie schnell kommen“, bittet der Passagier weiter, bevor das Gespräch abbricht. „Ah bah, du hörst nicht, du wirst nicht gerettet“, antwortet die Person der französischen Rettungsstelle. „Ich habe die Füße im Wasser“, sagt der Anrufer, worauf die französische Stelle entgegnet: „(I)ch habe dich nicht gebeten, zu gehen“. (übersetzt aus dem Französischem; original hier)

Die Untersuchungsunterlagen der französischen Polizei deuten auch darauf hin, dass die britischen Behörden ein Rettungsschiff an den Ort des Geschehens schickten, aber auch Frankreich baten, sein Patrouillenboot Le Flamant zu schicken, weil es näher sei. Doch die Le Flamant wurde nie entsandt, obwohl Großbritannien ausdrücklich darum bat. In einer von der BBC eingesehenen Zeugenaussage eines diensthabenden französischen Mitarbeiters heißt es, dass die Le Flamant bereits einem anderen Boot in Schwierigkeiten geholfen habe, laut „Le Monde“ wird dies im internen Polizeibericht jedoch widerlegt. (siehe hier).

Erst circa 12 Stunden nach Eingehen des ersten Anrufs, gegen 14.00 Uhr am 25. November 2021, trafen Rettungsschiffe am Unfallort ein. In den Stunden der unterlassen Rettung und des Entledigen von jeglicher Verantwortung, waren bis auf zwei Passagiere, alle Menschen ertrunken oder ihren Verletzungen erlegen.

Im Andenken an die 31 Verstorbenen, möchten wir ihre Namen nennen: Bryar Hamad Abdulrahman, 23 ans – Mhabad Ahmad Ali, 32 ans – Mohamed Hassan Elsaey Mohamed Ali – Sirwan Alipour, 23 ans – Maryam Nuri Mohamed Amin, 24 ans – Mohammed Qadir Aulla, 21 ans – Bilind Shukir Baker, 20 ans – Ahmad Didar, 27 ans – Pshtiwan Rasul Farka, 18 ans – Meron Hailu Gebrehiwot, 22 ans – Shikh Halima, 23 ans – Muslim Ismael Hamad, 19 ans – Rezhwan Yasin Hassan, 19 ans – Tahna Husain, 24 ans – Hasti Rzgar Hussein, 7 ans – Mubin Rzgar Hussein, 16 ans – Hadiya Rzgar Hussein, 22 ans – Kazhal Ahmed Khidir, 46 ans – Shawali Kochy, 26 ans – Zanyar Mina, 20 ans – Deniz Afrasia Ahmed Mohammed, 27 ans – Mohammed Hussein Mohammed, 19 ans – Twana Mamand Mohammed, 18 ans – Hassan Muhammed, 37 ans – Harem Serkaut Perot Muhammad, 28 ans – Gomaa Gaber Mohamed Ahmed NadaMayar Muhammad Naeem, 46 ans – Shakar Ali Pirot, 30 ans – Fikiru Shiferaw, 46 ans – Niyat Ferede Yeshiwendm, 22 ans – ein anonymer Mann

Kein Einzelfall?

Die Frage nach der Verantwortlichkeit für Seenotrettungsaktionen im Ärmelkanal ist grundsätzlich abhängig davon, wo sich der Vorfall ereignet, von wo aus der erste Notruf abgesetzt wird und welche Rettungsstelle am besten in der Lage ist, zu helfen.

Der derzeitige Stand der Ermittlungen zeigt, dass keine Rettungsstelle aktiv wurde, um die sich in Seenot befindenden Menschen auf dem Boot zu retten. Die Untersuchungen rekonstruieren somit das gleiche Bild des Unglücks, wie auch die Aussagen der einzig beiden Überlebenden der Havarie, Mohammed und Omar (siehe hier). Auch die wiederholten Anrufe der Passagiere, Ausdruck der absoluten Notlage der Menschen, führten zu keinem Zeitpunkt zur Anerkennung dieser Gefahr oder Koordinierung einer Seenotrettungsaktion. Im Gegenteil, die französische Rettungsstelle scheint gewartet zu haben, bis das Boot in englische Gewässer trieb um die Verantwortung an die britische Stelle übergeben zu können (siehe hier).

Offenbar scheint diese offensichtliche Abwälzung der Verantwortung über Rettungen im Ärmelkanal kein Einzelfall zu sein. So befand sich vier Tage vor der Havarie am 24. November 2021 ein anderes Boot mit Menschen, die versuchten, nach Großbritannien zu gelangen, in einer ähnlichen Lage. Audiobotschaften, die am 20. November an die Notrufnummer der Organisation Utopia56 geschickt wurden, beschreiben gestrandete Passagiere, die um Hilfe bitten. „Wir haben alle Nummern angerufen“, sagt der Anrufer. „Wenn ich die 999 anrufe, sagen sie, ich solle Frankreich anrufen, und die Franzosen sagen, ich solle im Vereinigten Königreich anrufen. Und beide lachen uns aus.“ Und später: „Sir, wir warten immer noch und es kommt niemand. Ich habe wirklich Angst, dass niemand kommt. Bitte, versuchen Sie, jemanden zu schicken.“ Auch ein Freiwilliger, der an diesem Tag zuständig für das Notfalltelefon von Utopia56 war, bestätigte: „Die Position des Bootes war sehr nahe an den britischen Gewässern“. Er rief die französische Küstenwache an, diese sagten, die britische Küstenwache habe das Boot in französische Gewässer treiben lassen. Letztendlich wurde dann ein französisches Rettungsboot entsandt, um sie zu retten. „Aber es hätte schlimm enden können“, sagte der Freiwillige. „Diese Situation erinnerte wirklich an das, was am 24. passiert ist.“ (siehe hier)

In Reaktion auf die aktuellen Veröffentlichungen, kündigte der französische Staatssekretär für Meeresangelegenheiten, Hervé Berville, an, dass es Sanktionen geben sollte, wenn sich die Berichten als wahr herausstellen sollten und „sich diese Menschen in französischen Gewässern befanden und zu irgendeinem Zeitpunkt Fahrlässigkeit oder ein Fehler vorlag (…)“ (siehe hier). Die Ermittlungen auf französischer Seite sind jedoch noch nicht abgeschlossen und auch die Ergebnisse einer separaten Untersuchung der britischen Behörden sind noch nicht veröffentlicht.

Fortbestand einer inhumanen Grenze

In diesem Jahr überquerten bereits mehr als 42.000 Menschen den Ärmelkanal, vergleichend dazu passierten rund 28.000 Menschen die Kanalroute im Jahr 2021. Auch in Reaktion auf diese kontinuierlich steigende Frequentierung der Passage, wurde am 14. November 2022 das neue britisch-französische Abkommen unterzeichnet, welches eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen dem Vereinten Königreich und Frankreich anstrebt, mit dem Ziel „die kleine Bootsroute unrentabel zu machen, Menschenleben zu retten, organisierte Verbrecherbanden zu zerschlagen und illegale Migration in den Transitländern (…) zu verhindern und abzuschrecken.“ (siehe hier) Das Vereinigte Königreich hat eine finanzielle Unterstützung in Höhe von bis zu 72,2 Millionen Euro für den Zeitraum 2022-2023 zugesagt, eine Summe die sich ungefähr im gleichen finanziellen Rahmen wie vorherige Investitionen einordnen lässt.

Das neue Abkommen sieht jedoch in keinem Punkt, den Ausbau von Maßnahmen der Seenotrettung vor, sondern fokussiert sich erwartungsgemäß auf die „Bekämpfung der Infrastrukturen kommerzieller Schleuser*innen“. Das Abkommen konstituiert somit keine angemessene Reaktion auf die Havarie vom 24. November 2021. Entgegen der Bestrebungen, die Grenze unpassierbar zumachen, manifestiert ihre Sekuritisierung die inhumane Situation der Exilierten in Nordfrankreich und trägt zum weiteren Fortbestehen eines lukrativen Markts für Schleusernetzwerke bei. (eine detaillierte Analyse des Abkommens hier)

Die Nichtregierungsorganisation Utopia56 sieht in dem Abkommen auch die Gefahr, dass „die Menschen, die versuchen, nach Großbritannien zu gelangen, immer größere Risiken eingehen, und die Macht der Schleusernetzwerke weiter (gestärkt wird) .“Alleine zwischen dem 11. und 14. November 2022 erhielt das Team von Utopia56, 20 Anrufe von Booten, die im Ärmelkanal in Seenot geraten waren.

„We will never let the lives that were lost on the 24 November 2021 be forgotten“

Am Jahrestag der Havarie versammelten sich über 700 Menschen bei mehreren Kundgebungen im Gedenken an die Opfer und gegen die repressive Grenz- und Migrationspolitik (unter anderem in Dunkerque, Paris, Rennes und London) .

Gedenkveranstaltung am 24.11.2022 in Paris ©Christophe Michel

In einem offenen Brief der Hinterbliebenen der Havarie an den britischen Premierminister Rishi Sunak, fordern sie Gerechtigkeit für die 31 Opfer, von denen einige nicht einmal tot geborgen werden konnten und sehen die Verantwortung für das letztlich tödliche Ausbleiben eines Rettungseinsatzes bei beiden Staaten und verlangen eine transparente Aufklärung des Geschehens. Auch fordern sie eine grundlegende Veränderung der Politik gegenüber den Bootsflüchtlingen und die Schaffung von sicheren Passagen (vollständiger Brief hier).

Eine Initiative von Utopia 56, Amnesty International und 65 humanitären Organisationen aus Frankreich, Belgien und Großbritannien, hat anlässlich des Jahrestags der Havarie und des neuen britisch-französischen Abkommens eine Erklärung unterzeichnet, in der sie die Forderungen der Hinterbliebenen nach einer Änderung der Migrations- und Grenzpolitik teilen (siehe hier). Gleichzeitig denunzieren sie die anhaltende, inhumane Situation in der Grenzregion und fordern die Schaffung von sicheren Passagen.

Ein Auszug der gemeinsamen Erklärung : „Im Gedenken an diese 31 Frauen, Männer und Kinder und die 325 [nach anderer Zählung: 355] anderen Menschen, die seit 1999 an dieser Grenze ihr Leben verloren haben, müssen die französische und die britische Regierung die Augen öffnen und ihre Verantwortung anerkennen. Ihre Sturheit, die Menschenrechte der an ihren Grenzen im Exil lebenden Menschen zu ignorieren und zu vernachlässigen, hat zu diesen Dramen geführt und wird weitere nach sich ziehen. Die Staaten müssen der humanitären und politischen Krise, für die sie verantwortlich sind, ein Ende setzen. Die Familien der Opfer und die Zivilgesellschaft fordern, dass Licht und Gerechtigkeit in Bezug auf den Schiffbruch vom 24. November 2021 geschaffen werden.“ (aus dem Französischen übersetzt)

Ein Jahr nach der Havarie dauern die juristischen Untersuchungen noch an, doch bereits veröffentliche Dokumente zeichnen ein düsteres Bild von unterlassener Hilfeleistung und vorsätzlicher Passivität. Ein Jahr später fordern zivilgesellschaftliche Akteure noch immer eine nachhaltige Auseinandersetzung mit Ursachen und kritisieren die fortbestehende Sekuritisierung der Grenzen, als auch die Erzeugung eines hostile environment, das zur Abschreckung von Exilierten dient. Ein Jahr später ist noch immer eine Grenzpolitik in Kraft, welche die inhumane Situation in Nordfrankreich manifestiert und die Schaffung legaler Passagen ablehnt und somit die Gefahr von neuen Havarien gleichgültig in Kauf nimmt.