Wenn Schlauchboote von der nordfranzösischen Küste ablegen, ist dies für die französische Polizei und Gendarmerie die letzte Gelegenheit, um eine Bootspassage abzubrechen. Hierbei kam es in der Vergangenheit wiederholt zu Gewalt, die, weil sie meist bei Nacht an menschenleeren Strandabschnitten ausgeübt wird, selten dokumentiert wird (siehe hier, hier und hier). Über einen aktuellen Fall, bei dem Polizist_innen ein Boot mit CS-Gas beschossen, berichtet nun Utopia 56.
Utopia 56 führt regelmäßig Hilfseinsätze für Geflüchtete durch, welche nach gescheiterten Passageversuchen im wörtlichen Sinne stranden. Oft sind sie, gerade im Winter, stark unterkühlt, haben keine trockene Kleidung mehr, sind verletzt oder traumatisiert. Die Organisation ist durch diese Einsätze näher am Geschehen, als die meisten anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen der nordfranzösischen Grenzregion.
In der Nacht vom 7. auf den 8. Februar 2023 erhielt Utopia Anrufe von Polizei und Feuerwehr: „Wir hatten 17 Migranten im Wasser […] wir haben noch zehn, sie sind mit Schlamm bedeckt, sie sind durchnässt, ich weiß nicht, ob ihr die Möglichkeit habt, sie aufzunehmen.“
Fünfzehn Minuten später trafen die Freiwillige von Utopia 56 am Ort des Geschehens ein. „Es ist -4 °C kalt. Zehn Personen sind durchgefroren, mit Schlamm bedeckt und die meisten sind barfuß. Sieben weitere Personen wurden ins Krankenhaus gebracht.“ Nach einer Notversorgung und nachdem die Feuerwehr wieder abzogen war, brachte das Team die Geflüchteten zum Aufwärmen in seinen Van.
Die Geflüchteten berichteten, so Utopia 65, „dass die Polizisten, während das Boot zu Wasser gelassen wurde, mit Tränengasgranaten auf sie zielten. Drei Gasgeschosse trafen das Boot und drohten, es in Brand zu setzen.“ An Bord seien sechs Persoben gewesen, darunter ein 16jähriger Jugendlicher. Utopia 56 zitiert einen der Betroffenen mit dem Satz: „Sie wollten uns töten“, was die Heftigkeit des Einsatzes erahnen lässt. Auch sei es, so die Organisation, zu physischer und verbaler Gewalt gekommen: „Beleidigungen, Schläge mit Schlagstöcken (eine Person wurde am Kopf verletzt), ‚welcome in the UK‘, Spott, dann das Zurücklassen, im Schlamm, in der Kälte, verletzt, nass.“ Ein anderes Polizeiteam habe die Menschen dann aus dem Wasser geborgen und den Bereitschaftsdienst von Utopia 56 in Grande-Synthe alarmiert.
Gegen 4.50 Uhr trafen die Freiwilligen die sieben ins Krankenhaus gebrachten Personen. „Sie sitzen im Warteraum, durchnässt und mit Schlamm bedeckt.“ In den vergangenen drei Stunden hätten sie Erste Hilfe erhalten und sollten nun das Krankenhaus verlassen. Ein von Utopia 56 veröffentlichtes Foto zeigt eine barfüßige Person, die noch in eine Rettungsdecke gehüllt ist. Letztlich seien die Leute in zu ihren Camps zurückgekehrt. „Am nächsten Tag werden sie trotz der Risiken sicherlich wieder versuchen, die Grenze zu überqueren“, so Utopia 56.
Die Organisation kündigte an, den Fall an die Défenseure des droits (wörtlich: Verteidigerin der Rechte, eine unabhängige französische Behörde zum Schutz der Grund- und Freiheitsrechte) und die Inspection générale de la Police nationale (eine polizeiinterne Ermittlungebörde für Dienstverstöße) zu melden.
Udpate, 20. Februar 2023: Der Fall wurde inzwischen von regionalen Medien aufgegriffen. Dort finden sich weitere Schilderungen von Utopia 56.