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Familien der Opfer fordern Entschädigung für die Havarie im November 2021

Bei der bislang schwersten Havarie eines Schlauchboots im Ärmelkanal starben am 24. November 2021 insgesamt 31 Geflüchtete, vier von ihnen wurden nie gefunden. Flankierend zur strafrechtlichen Aufarbeitung, fordern drei Familien von Opfern nun eine Entschädigung vom französischen Staat. Sie begünden dies mit der Untätigkeit der für die Seenotrettung zuständigen Institutionen. Unterstützt wird die Forderung durch die zivilgesellschaftlichen Organisationen Utopia 56 und Ligue des droits de l’homme (Liga für Menschenrechte).

Bereits wenige Tage nach der Havarie war bekannt geworden, dass französische und britische Behörden trotz eindringlicher Notrufe stundenlang keinen Rettungseinsatz veranlasst, sondern auf die Zuständigkeit der jeweils anderen Seite verwiesen hatten (siehe hier, hier, hier und hier). Ein Jahr nach der Katastrophe veröffentlichte Le Monde Details der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, die ein eklatantes Fehlverhalten der französischen Leitstelle Centre Régional Opérationnel de Surveillance et de Sauvetage (CROSS Gris-Nez) belegen (siehe hier). Die meisten Passagier_innen starben während der dadurch verstrichenen Zeit.

In einer gemeinsamen Erklärung vom heutigen Tag knüpfen Utopia 56 und die Liga für Menschenrechte an diese Erkenntnisse an: „Die Ermittlungen zeigen, dass die Mitarbeiter [… des CROSS] mindestens 14 mal von dem Boot kontaktiert wurden, ohne dass eine Rettungsaktion eingeleitet wurde, sodass das Boot in englische Gewässer trieb.“ Die Kläger_innen werfen den Behörden „schuldhafte Untätigkeit“ vor. Der Ernst der Lage sei „angesichts der Anzahl der Hilferufe in sehr kurzer Zeit, der Schreie und des Weinens, die bei den Notufen zu hören waren, des Fehlens von Motorgeräuschen, der genauen Angaben der Passagiere und der vom Tanker Concerto vorgenommenen Meldung zweifelsfrei“ zu erkennen gewesen. Das CROSS habe der britischen Seite außerdem „nur bruchstückhafte Informationen“ übermittelt und insbesondere „die Notlage, in der sich das Boot befand“, nicht deutlich gemacht. Auch sei der britischen Bitte nicht gefolgt worden, das französische Patrouillenboot Flamant einzusetzen, das sich näher an der Unglücksstelle befunden habe als ein britisches Schiff. Die von der Staatsanwaltschaft ausgewerteten Funkaufzeichnungen hätten gezeigt, dass die Flamant nicht mit einem anderen lebenswichtigen Einsatz beschäftigt gewesen sei, wie behauptet wurde.

Der Entschädigungsantrag der drei Familien äthiopischer, irakischer und iranischer Nationalität wurde am 13. Februar 2023 durch Rechtsanwält_innen Jessica Lescs und Emmanuel Daous auf der Basis eines Rechtsgutachtens des Vereins Intérêt à Agir eingereicht. Er richtet sich an die gesamte für das mutmaßliche Versagen der Seenotrettung verantwortliche Hierarchie, d. h. an die Premierministerin, den Innenminister, den Staatssekretär für Meeresangelegenheiten, den Seepräfekten für den Ärmelkanal und die Nordsee und den Direktor des CROSS Gris-Nez. Begründet wird die Forderung nicht allein mit schuldhafter Untätigkeit, sondern auch mit „Nichteinhaltung der Verpflichtungen des Staates in Bezug auf die personellen und materiellen Mittel“ für die Seenotrettung auf der Kanalroute.

Die Regierung hat nun zwei Monate Zeit, auf die Entschädigungsforderung zu reagieren. Geschieht dies nicht, so kündigen die beiden unterstützenden Organisationen eine Klage vor dem Verwaltungsgericht an.

Gegenüber der Zeitung La voix du Nord sprach Anwalt Daoud von einer „ergänzenden Aktion“, um die strafrechtliche Aufklärung voranzubringen. Diese war seinerzeit u.a. von Utopia 56 angestoßen worden. Es gehe in erster Linie nicht um Geld, denn dies bringe die Angehörigen der Kläger_innen nicht zurück. „Es geht vielmehr darum, die Konsequenzen aus den schuldhaften Versäumnissen der Behörden zu ziehen“. Bislang wurden keine Verantwortlichen innerhab den zuständigen Stellen sanktioniert.