Die Nachrichtenagentur Reuters meldete am 19. April, die britische Regierung erwarte die Ankunft von 56.000 Bootspassagier_innen im laufenden Jahr. Dies wären etwa zehntausend Personen mehr als im Jahr 2022. Tatsächlich jedoch liegt die Zahl der Menschen, die seit Jahresbeginn auf der Kanalroute übergesetzt sind, momentan etwas unter dem Vorjahr. Auch im vergangenen Jahr hatten britische Medien über amtliche Prognosen berichtet, die stark über der tatsächlichen Zahl der Geflüchteten auf der Kanalroute lagen.
Blicken wir ein Jahr zurück. Am 23. Januar 2022 berichtete die Times, dass die Regierung von etwa 65.000 Ankünften im laufenden Jahr ausgehe. Das konservative Blatt bezeichnete die Zahl als mittleres Szenario innerhalb einer Bandbreite von höchstens 80.000 und wenigstens 45.000 Ankünften. Tatsächlich gelang die Überfahrt knapp 46.000 Menschen (siehe hier), also lediglich ein paar hundert mehr, als das Szenario im Minimalfall angenommen hatte. Die Prognose erwies sich also als verfehlt. Dennoch hielt die Regierung an einer aggressiven Rhetorik gegen die Bootspassagen fest, erklärte sie Anfang 2023 zu einer ihrer fünf Prioritäten und brachte im März eines der am weitesten rechts stehenden Migrationsgesetze Europas auf den Weg (siehe hier).
Umso bemerkenswerter ist es, dass das Innenministerium nun anscheinend von einer Prognose für das laufende Jahr ausgeht, die deutlich unter der Prognose des Vorjahres liegt. Würde sie sich bewahrheiten, so würde die Zahl der Ankünfte 2023 um 10.000 steigen, was gemessen an der zeitweisen Verdreifachung der Ankünfte in den vergangenen Jahren eher ein leichter Anstieg wäre – weit entfernt, von den alarmistisch vorgetragenen Invasions- und Zusammenbruchs-Szenarien der regierenden Rechten. Und sehr viel weniger als die im vergangenen Jahr angeblich erwarteten 65.000 Ankünfte.
Selbst die Prognose von 56.000 Ankünften im laufenden Jahr lässt sich bislang kaum mit der empirischen Realität in Einklang bringen. Denn nahm die Frequentierung der Kanalroute seit 2018 kontinuierlich zu, so ist dies in den ersten dreieinhalb Monaten dieses Jahres nicht mehr in gleicher Weise erkennbar. Am 14. April 2023 überschritt die Zahl der Ankünfte zwar die Marke von 5.000, allerdings lag sie zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres bereits über 6.000. Insgesamt wechselten seit Jahresbeginn Phasen einander ab, in denen jeweils etwas mehr oder etwas weniger Menschen als im Vorjahr die Überfahrt gelang. Statt von Jahr zu Jahr weiter zuzunehmen, scheint sich die Zahl der Überfahrten eher auf einem gewissen Niveau einzupendeln (siehe hier). Allerdings ist es zu früh, um dies valide einschätzen zu können.
Gleichwohl könnte die gegenüber 2022 geringer angesetzte Prognose darauf hindeuten, dass die Regierung realisiert hat, dass sich die Zahl der Überfahrten innerhalb eines gewissen Korridors normalisieren könnte. Sollte dies der Fall sein, so wird sie dies früher oder später wohl als einen Effekt ihrer extremen Migrationspolitik vermarkten. Momentan jedoch scheint das Gegenteil der Fall zu sein. So kündigte ein Anwalt der Regierung in einem Rechtsstreit um die Umwandlung des ehemaligen Militärflugplatzes Wethersfield in eine lagerartige Massenunterkunft an, mit dem Begriff des nationalen Notstands (emergency) argumentieren zu wollen. Im Rahmen desselben Rechtsstreits nannte der rechtliche Vertreter der Regierung die Zahl von 56.000 prognostizierten Ankünften im laufenden Jahr. Beides fand im räudigsten Teil des britischen Boulevard begeisterten Widerhall. Der offenkundige Widerspruch zwischen einer im Vergleich zum Vorjahr abgesenkten Prognose und der alarmistischen Notstandesrheotrik fiel nicht weiter ins Gewicht.
Welche Prognostik die britische Regierung ihrer Politik zu Grunde legt, bleibt gleichwohl unklar, denn in der vorliegenden Berichterstattung finden sich keine Angaben über empirische Grundlage, Methodik, Zweck und Plausibilität der Berechnungen. Vielmehr fungierten die Zahlen Fünfundsechzigtausend und Sechsundfünfzigtausend eher wie politische Statements und populistische Alarmsignale. Aus diesem Grund können auch die Beobachtungen in diesem Beitrag momentan nicht mehr als eine Hypothese sein.