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Channel crossings & UK

Zahl der Bootspassagen geht leicht zurück

Ärmelkanal bei Calais. (Foto: Th. Müller)

Etwas mehr als 7.000 Menschen erreichten Großbritannien seit Jahresbeginn in unsicheren Schlauchbooten. Damit steigt die Zahl der Bootspassagen im Vergleich zum Vorjahr zum ersten Mal nicht weiter an, sondern geht leicht zurück. Seit der Etablierung der Channel crossings ab dem Herbst 2018 war die Kanalroute von Jahr zu Jahr stärker frequentiert worden; zuletzt war die Zahl der Ankünfte von rund 28.000 im Gesamtjahr 2021 auf rund 46.000 in 2022 angestiegen. Auf diesem Niveau scheint sich die Migration zurzeit einzupendeln.

In den vergangenen Jahren war im Frühjahr grob einschätzbar, wie sich die Bootspassagen im weiteren Jahresverlauf entwickeln würden (siehe hier und hier). Schwieriger ist es in diesem Jahr: Die Wintermonate Januar bis März waren von Phasen gekennzeichnet, in denen teils mehr, teils weniger Menschen per Boot übersetzten als im Vorjahr (siehe hier).

Nach Angaben des britischen Innenministeriums reisten von Januar bis März insgesamt 3.793 Menschen in small boats ein. Dies waren 17 % weniger als in denselben Monaten des Vorjahres (4.548 Ankünfte). Das Ministerium erklärte den Rückgang mit den ungünstigen Wetterbedingungen. In der Tat waren solche wetterbedingten Schwankungen auch in den Vorjahren zu beobachten gewesen, sodass der Rückgang während des Winters nicht zwingend auf einen längerfristigen Trend schließen lässt.

Seither verfestigt sich jedoch das Bild: Nach den vergleichsweise wenig Überfahrten im März wäre in den Folgemonaten ein entsprechender Anstieg zu erwarten gewesen. Dies ist jedoch nur bedingt der Fall: Zwar erreichten im April 2.153 Passagier_innen britisches Hoheitsgebiet, doch waren dies nur zehn Personen mehr als April des Vorjahres. Die Gesamtzahl der Ankünfte überschritt Mitte Mai den Wert von 7.000. Damit aber war „die Zahl der Menschen, die in diesem Jahr bislang angekommen sind, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum leicht zurückgegangen“, so der BBC-Reporter Simon Jones.

Simon Jones zur Ankunft von 285 Menschen am 17. Mai 2023. (Quelle: Simon Jones / Twitter)

Detaillierter betrachtet, erreichten die Channel crossings am 22. April ihr diesjähriges Tagesmaximum: Elf Boote mit 497 Menschen erreichten britisches Gebiet, weitere fünfzehn Personen gerieten in französischen Gewässern in Not und wurden zurück an die Küste gebracht. Bis Ende April folgten, auf vier Tage verteilt, knapp 400 Personen. Am 1. Mai setzten 246 Menschen in sechs Booten über. Danach bewegten sich die täglichen Zahlen, sofern überhaupt Überfahrten stattfanden, zwischen 40 Personen in einem einzelnen Boot und 142 Personen in drei Booten. Lediglich am 17. Mai setzte mit 285 Menschen in sechs Booten eine größere Personenzahl über.

Diese Zahlen machen deutlich, dass es nicht zu einem abrupten Rückgang oder sogar Abbruch der Ankünfte gekommen ist. Die Verlauf ähnelt insofern dem Vorjahr, ist aber nicht mehr so dynamisch wie in den ersten vier Jahren der Bootspassagen.

Gleichzeitig registrierten die britische Behörden einmal mehr gewisse Veränderungen bei der nationalen Zusammensetzung der Bootspassagier_innen. Im Spätsommer 2022 hatten zeitweise Albaner_innen die größte Herkunftsgruppe gebildet, während fast genauso viele aus Afghanistan stammten. In den ersten drei Monaten dieses Jahres kamen mit 24 % die Meisten aus Afghanistan. Allerdings waren nun indische Staatsangehörige mit 18 % die zweitgrößte Gruppe. Anders als afghanische, hatten albanische und indische Staatsangehörige zuvor keinen großen Anteil an den Überfahrten gehabt.

Das Phänomen der indischen Channel migrants war daher ebenso überraschend wie die Ankunf einer größeren Zahl von Albaner_innen ein halbes Jahr zuvor. Einem Bericht der Times of India zufolge waren die indischen Channel migrants größtenteils Männer aus den Regionen Punjab, Delhi und Gujarat; viele reisten mit griechischen oder serbischen Visa nach Frankreich, um später etwa in der britischen Lebensmittelproduktion undokumentiert zu arbeiten. Die Visa würden, so das Blatt, gegen hohe Summen von Agenturen mit Niederlassungen in Chandigarh, Jalandhar und Delhi vermittelt. Britische Medien nannten als weitere mögliche Gründe politische Spannungen in Indien, Verfolgungen durch die regierenden Hindu-Nationalist_innen, massive soziale Ungleichheit und familiäre Verbindungen mit der indischen Diaspora.

Das Auftauchen bislang kaum präsenter Herkunftsgruppen deutet weniger auf eine Zerschlagung des Geschäftsmodells für kommerzielle Schleusungen hin, wie sie die britische Regierung von ihren Verschärfungen des Migrationsrechts erhofft. Vielmehr lassen sie auf eine hohe Flexibilität und internationale Aktivität der Organisator_innen schließen. Als wir Anfang Mai in Nordfrankreich recherchierten, fanden sich jedenfalls keine Hinweise auf eine grundlegende Veränderung. Vielmehr hatte sich ein als Basis für Bootspassagen bekanntes Camp bei Dunkerque nach einer großen Räumung an anderer Stelle sofort neu gebildet. Von dort aus brach eine Gruppe von etwa vierzig Menschen in organisierter Form auf, wohl um in der Nacht von einer anderen Stelle aus überzusetzen.

Sollte die Frequentierung der Kanalroute im weiteren Jahresverlauf weiter stagnieren oder sogar zurückgehen, dürfte die britische Regierung dies als Bestätigung ihrer im Winter auf den Weg gebrachten Gesetzesvorhaben auffassen, die auf maximale Abschreckung zielen. Die britische Politik könnte dann leicht auch auf dem Kontinent als Erfolgsmodell begriffen werden und migrationspolitische Verschärfungen befeuern.

Ob und, wenn ja, in welchem Maße die momentane Stagnation der Bootspassagen tatsächlich mit der britischen Abschreckungspolitik zusammenhängt, ist kaum einschätzbar. Diese stellt einen gewichtigen, aber eben nur einen einzelnen, Faktor in einem komplexen Geschehen dar. Dass sich die Dynamiken der Vorjahre nicht unbegrenzt fortsetzen würden und sich die Zahlen früher oder später in einem bestimmten Korridor einpendeln würden, war hingegen zu erwarten.