In den frühen Morgenstunden des 12. August 2023 kam es im Ärmelkanal erneut zu einer tödlichen Havarie, der ersten in diesem Jahr. Sechs Menschen wurden im Laufe des Tages tot geborgen oder starben nach einer Einlieferung ins Krankenhaus. Zwei weitere Personen gelten als vermisst. Hier eine erste Zusammenfassung der am Tag der Katastrophe vorliegenden Informationen.
Lokale Medien berichten unter Berufung auf die Seepräfektur PREMAR, dass ein Handelsschiff gegen 4.20 Uhr die zuständige französische Leitstelle CROSS Gris Nez alarmiert habe. Zwischen 4:30 und 5:00 Uhr hätten Rettungsschiffe das havarierte Boot entdeckt, bei dem es sich um ein etwa sechs Meter langes RIB (Rigid Inflatable Boat) gehandelt habe und das mit 65 oder 66 Personen überladen gewesen sei. Nach Mitteilung der Seepräfektur seien zu diesem Zeitpunkt bereits „mehrere Schiffbrüchige über Bord gegangen“. 36 Überlebende wurden vom Rettungsschiff Cormoran der französischen Marine im Hafen von Calais an Land gebracht, sieben von ihnen wurden als Notfälle ins Krankenhaus eingeliefert.
Im Laufe des Nachmittags wurde bekannt, dass auch die an der Rettungsaktion beteiligten britischen Stellen 22 oder 23 Personen in Dover an Land gebracht hatten. Auch unter ihnen befanden sich nach britischen Berichten medizinische Notfälle. Bevor die Zahl der nach Großbritannien gebrachten Überlebenden bekannt war, war von bis zu zehn oder zwölf Vermissten ausgegangen worden, was sich glücklicherweise nicht bestätigte. Allerdings gelten nach übereinstimmenden Berichten nach wie vor zwei Personen als vermisst. Da die Havarie auf hoher See stattfand, ist zu befürchten, dass auch sie ihr Leben verloren haben. Die während des Tages andauernde Suche nach ihnen wurde inzwischen eingestellt.
Fünf der sechs bislang bestätigten Todesopfer waren vom Schiff Notre-Dame-du-Risban der zivilen Seenotrettungsorganisation Société nationale de sauvetage en mer (SNSM) aus dem Meer geborgen worden worden. Soweit bislang bekannt, sind sie afghanischer Nationalität und ungefähr 30 Jahre als. Das sechste Todesopfer war zunächst per Hubschrauber in das Krankenhaus von Calais gebracht worden und verstarb dort. Auch er sei ein Afghane im Alter von etwa 25 bis 30 Jahren.
Die Havarie ereignete sich nach französischen Angaben etwa 20 Kilometer vor dem Küstenabschnitt zwischen Sangatte und Les Hemmes de Marck. Die beiden Orte liegen knapp westlich bzw. östlich von Calais. BBC gibt abweichend davon eine Position deutlich westlich von Sangatte an, etwa in Höhe des Kaps Gris Nez. Trifft dies zu, so ereignete sich die Havarie in französischem Hoheitsgebiet.
Über den Verlauf der Havarie ist nur wenig bekannt. BBC zitiert einen beteiligten Helfer mit der Aussage, die Passagiere hätten versucht, mit Schuhen Wasser aus dem Schlauchboot zu schöpfen. Ein französischer Helfer habe berichtet, das Boot habe sich aus eigener Kraft nicht mehr fortbewegen können.
Die französische Grenzpolizei führte Befragungen der Überlebenden durch. Sie seien männlich und überwiegend afghanischer, aber auch sudanischer Nationalität; mindestens ein Jugendlicher befinde sich unter den Überlebenden.
Die zunächst von der Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer eingeleiteten Ermittlungen wurden im Laufe des Tages nach Paris abgegeben. Auf Ersuchen von Premierministerin Élisabeth Borne besuchte der für Migration zuständige Staatssekretär Hervé Berville den Hafen von Calais und die Leitstelle CROSS Griz Nez.
Die Havarie geschah in einer Phase, in der nach einer Schlechtwetterperiode zahlreiche Boote den Kanal überquerten. Am 10. August hatten 755 Personen in 14 Booten Großbritannien erreicht – das diesjährige Tagesmaximum. Danach, am 11. August, gelang 343 Passagier_innen die Überfahrt, weitere 115 Menschen gerieten in Seenot und wurden im französischen Seegebiet gerettet. Auch am Tag der Havarie sollen zahlreiche Überfahrten stattgefunden haben, doch liegen bislang noch keine Daten vor. Von einer in der lokalen Geflüchtetenhilfe tätigen Initiative erfuhren wir außerdem, dass die Polizei in den letzten Tagen etwa zehn Boote gewaltsam am Ablegen gehindert habe; unsere Gesprächspartner_innen verglichen dieses Vorgehen mit Pushbacks.
Unabhägige zivilgesellschaftliche Initiativen rufen zu einer Kundgebung zu Ehren der Opfer auf. Sie findet am 13. August um 18:30 Uhr am Richelieu-Park in Calais statt.