Weniger als eine Woche nach dem Tod von vier Schiffbrüchigen (siehe hier) ist erneut ein Exilierter im Ärmelkanal ertrunken. Es ist, soweit wir wissen, der 25. Todesfall seit Jahresbeginn. Während des Rettungseinsatzes wurden von einem britischen Schiff gerettete Menschen nach Frankreich zurückgebracht, was möglicherweise einen Pushback darstellt. Dieser Vorfall rief Spekulationen über eine angebliche politische Wende der neuen britischen Regierung hin zu Pushbacks auf See hervor.
Aus lokalen Medienberichten und einer Pressemitteilung der französischen Seekräfektur (Préfecture maritime de la Manche et de la Mer du Nord, kurz: Prémar) geht nicht hervor, wo das Boot abgelegt hatte und an welcher geographischen Position es havarierte bzw. die Schiffbrüchigen geborgen wurden. Die Beteiligung britischer Stellen am Rettungseinsatz lässt jedoch darauf schließen, dass das Unglück nicht in Küstennähe, sondern in der Nähe der Seegrenze geschah. Unklar ist auch, ob und zu welchem Zeitpunkt ein Notruf abgesetzt worden war.
Laut Seepräfektur meldete das französische Patrouillenboot Cormoran am Abend des 17. Juli, dass ein Schlauchboot Luft verloren habe und sich Personen im Wasser befanden. Während die Besatzung mit der Rettung begann, mobilisierte die zuständige französische Rettungsleitstelle GROSS Gris-Nez zusätzlich das zivile Rettungsschiff Notre Dame du Risban, zwei Helikopter und das im Küstengebiet eingesetzte Frontex-Flugzeug. Von britischer Seite aus unterstützte das Dover Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC) den Such- und Rettungseinsatz mit weiteren, teils bereits in dem Seegebiet befindlichen Schiffen.
Offenbar befanden sich sehr viele oder alle Passagier_innen bereits im Wasser; einige waren laut Premar weggedriftet, jedoch noch nicht weit von der Unglücksstelle entfernt. Insgesamt wurden 72 Schiffbrüchige geborgen, davon 59 durch das französische Patrouillenboot und 13 durch die britische Küstenwache. Eine leblose Person an Bord des französischen Schiffes konnte durch ein Ärzteteam der Seenotrettung nicht mehr wiederbelebt werden.
Britischen Medienberichten zufolge wurden auch die 13 vom britischen Rettungsboot Ranger geborgenen Überlebenden nach Calais gebracht, statt sie wie üblich in Dover von Bord gehen zu lassen. Dieser Umstand wurde vor allem von rechten Boulevardmedien aufgegriffen und als Hinweis auf die Bereitschaft der Regierung von Keir Starmer interpretiert, auf der britischen Seite des Ärmelkanals gerettete Menschen in Zukunft generell nach Frankreich zurückzuweisen, also Pushbacks auf See durchzuführen. Am 18. Juli dementierte Starmer dies und erklärte, „dass die Entscheidung der UK Border Force von gestern Abend, einige Migranten nach Calais zurückzuschicken, deren Boot Luft verloren hatte, eine operative Entscheidung und keine Änderung der Politik war.“ Die weitere Entwicklung wird zeigen, ob dies zutrifft.
Über die Identität des Toten wurden bislang keine Details bekannt. Nach unserer Zählung erhöht sich die Zahl der dokumentierten Todesopfer im kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsraum seit Jahresbeginn damit auf 25. Darin inbegriffen sind alle bekannt gewordenen Fälle auf See und an Land in Frankreich und Belgien. Hinzu kommen mindestens drei auf hoher See verschollene Menschen.
Die Umstände der Havarie erinnern an die erst wenige Tage zurückliegende Havarie mit vier Todesopfern vom 12. Juli, die ebenfalls durch Luftverlust ausgelöst wurde. Das nun havarierte Boot war mit 72 Personen besonders drastisch überladen, nachdem sich die durchschnittliche Zahl der Passagier_innen pro Boot in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht hat und momentan bei etwa 50 liegt. Ein verschärfender Faktor sind überhastete Ablegemanöver aufgrund verstärkter Kontrolle der Ablegestrände und teils gewaltsamer Polizeitaktiken (siehe hier, hier und hier). Diese können zur Folge haben, dass die ohnehin lebensgefährlichen Boote nicht ausreichend mit Luft befüllt und stabilisiert sind.