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Boulogne-sur-Mer Channel crossings & UK

Nach den zwölf Toden

Gedenken an die Opfer der Havarie vom 3. September 2024 in Calais. (Foto: Julia Druelle)

Zwei Tage nach der schweren Havarie vor Kap Gris-Nez am 3. September 2024 sind weitere Umstände bekannt geworden. Es hat sich bestätigt, dass zwölf Menschen starben, darunter sechs Minderjährige; zwei weitere Menschen sind auf See verschollen und dürften kaum überlebt haben. Inzwischen wirft ein Medienbericht kritische Fragen hinsichtlich der Rettungseinsatzes auf, während die übliche politische Instrumentalisierung der Katastrophe einsetzt – und ablenkt von den strukturellen und politischen Ursachen der Tode.

Auf lokale Behörden gestützt, berichten die Medien übereinstimmend, dass bei der Havarie zehn weibliche und zwei männliche Personen starben. Unter den Opfern befand sich eine schwangere Frau. Die Hälfte der Toten waren Kinder oder Jugendliche. Es wird angenommen, dass alle oder die meisten von ihnen aus Eritrea kamen.

Das Boot soll bei Ambleteuse nördlich von Boulogne-sur-Mer in See gestochen sein. An Bord scheinen sich über 80 Personen befunden befunden zu haben, von denen 15, wie weiter unten dargestellt, offenbar bereits vor der Havarie von einem Rettungsschiff an Bord genommen wurden. Weiter nördlich, vor Kap Gris-Nez, scheint der Boden des immer noch überladenen Boots gerissen zu sein. Von den Passagier_innen hätten weniger als acht Rettungswesten getragen. Dies und der Umstand, dass der Passagebesuch bei ungünstiger See erfolgte, liegt unmittelbar in der Verantwortung kommerzieller Schleuser, aber natürlich wirtschaftet kein Schleuser ohne die politischen Strukturen an der Migrationsroute.

Wie bereits in unserem vorigen Beitrag berichtet (siehe hier), fand am Mittag und Nachmittag des 3. September eine großangelegte Such- und Rettungsaktion unter Federführung der Leitstelle CROSS Gris-Nez statt, bei der 53 Überlebende und die zwölf Leichen geborgen wurden. Dabei war zunächst das Marineschiff Minck vor Ort, später kamen weitere Schiffe und Hubschrauber hinzu.

Am folgenden Tag warf die lokale Zeitung La voix du Nord die Frage auf, ob dabei Fehler gemacht worden sind und weitere Menschen hätten gerettet werden können. Hinterfragt wurden drei konkrete Punkte: das Management der Schiffe, die Einbeziehung von Fischern und der Einsatz eines nicht funktionierenden Hilfsmittels.

Eine anonyme Quelle hatte mitgeteilt, das eines der beiden von der Leitstelle mobilisierten Fischereischiffe, die Murex, angewiesen worden sei, nicht einzugreifen, wodurch wertvolle Zeit verloren gegangen sei: „Über Funk soll die Minck (ein vom Staat gechartertes Schiff) der Murex gesagt haben, sie solle warten, und ‚das CROSS reagierte nicht mehr auf Anrufe‘, berichtet eine Quelle. ‚Wir haben 10 bis 15 Minuten verloren, vielleicht hätten ein oder mehrere Leben gerettet werden können‘. In der Folgezeit fischte die Murex, unterstützt von einem anderen Kutter, der Bretonne, vier der zwölf Opfer aus dem Wasser“, so die Zeitung. Mit der Aussage konfrontiert, bestätigte der Kommandant des CROSS Gris-Nez, Olivier Drevon: „In der Tat, die Fischer müssen sich ein wenig einsam gefühlt haben. Wir hatten keine Zeit, mit ihnen zu sprechen.“

Zu der Zeit, als die Murex ohne Anweisungen im Zentrum des Geschehens war, scheint die Leitstelle damit beschäftigt gewesen zu sein, die übrigen am Einsatz beteiligten Schiffe und Hubschrauber zu mobilisieren. Allerdings fehlte der Schlepper Abeille Normandie. Dieser habe, so Drevon, einige Zeit vor der Havarie „zunächst 15 Personen aus dem Boot geholt, [… ] um das Boot leichter zu machen“. Zu dieser Zeit habe die Leitstelle sieben weitere Überquerungen beobachtet und die Abeille Normandie „freigegeben“; diese „brachte die Exilanten vor einer technischen Wartung an den Kai zurück,“ so Drevon.

Hinzu kam dem Bericht zufolge ein drittes Problem: „Der Hubschrauber der Nationalen Marine, der ein leichtes Motorproblem hatte, bevor der zur Rettung zurückkehrte, warf eine Rettungsinsel (radeau de survie) für die Exilierten ab, ‚aber niemand schaffte es, an Bord zu kommen‘, erklärte das CROSS.“ Anscheinend war die Rettungsinsel zwar bei einer Übung getestet worden, erwies sich aber in der Praxis als untauglich.

Nach der bisher schwersten Havarie eines Schlauchbootes mit 31 Todesfällen am 24. November 2021 war ein eklantantes Versagen des CROSS Gris-Nez ans Licht gekommen, das in Strafverfahren gegen mehrere dort eingesetzte Soldaten mündete (siehe hier und hier); damals war ein Rettungseinsatz fast einen halben Tag lang nicht erfolgt, sodass nur zwei Personen die Havarie überlebten. Im aktuellen Fall jedoch erfolgte der Einsatz, sofern wir es aus der Distanz beurteilen können, rasch, doch zeigten sich die beschriebenen Probleme einschließlich des im Vergleich zu 2021 zwar kurzen, aber dennoch möglicherweise fatalen Zeitverlustes. Jedenfalls wies auch der für Meeresangelegenheiten zuständigen Staatssekretär Hervé Berville gegenüber La voix du Nord auf behördeninterne Mechanismen zur Nachbereitung der Abläufe und Befehlsketten hin.

Die Havarie war, wie bei besonders „tragischen“ Todesfällen üblich, einmal mehr Anlass für migrationspolitische Statements. Vertreter der britischen und französischen Regierung wiederholten die Forderung nach einer restriktiven Bekämpfung von Schleusungen – für den britischen Premierminister Keir Starmer das Kernstück seiner Politik zur Bekämpfung der Bootspassagen. Der zurückgetretene französische Innenminister Gérald Darmanin forderte bei seinem Besuch der Rettungskräfte am Abend nach der Havarie in Boulogne-sur-Mer den Abschluss eines seit 2021 mehrfach geforderten, jedoch nie zustande gekommenen, Migrationsabkommens mit Großbritannien, und zwar möglichst abgeschlossen durch die EU. Indirekt räumte er ein, dass die Migration nach Großbritannien durch die bisherigen Maßnahmen zur Überwachung der Küste nicht gestoppt werden könne.

Eine zynische Instrumentalisierung der Havarie unternahm der erst im Juli in die Nationalversammlung gewählte Rechtsextremist Marc de Fleurian (Rassemblement National) aus Calais. Er übergab Darmanin in Boulogne-sur-Mer ein Schreiben mit der Forderung nach unverzüglicher Räumung eines Camps im Calaiser Stadtteil Pont du Loi.

Zu diesem Zeitpunkt hatte in Calais bereits die Räumung eines anderen Camps stattgefunden. Angesichts des Umstandes, dass es von Eritreer_innen bewohnt worden war und bei der Havarie hauptsächlich Eritreer_innen starben, kommentierte die lokale NGO Human Rights Observers: „Der Staat schikaniert weiterhin Menschen, die zum Teil auf der Suche nach ihren vermissten Angehörigen sind.“

Zu Ehren der zwölf Opfer und zugleich als zivilgesellschaftlichen Protest riefen lokale NGOs zu Gedenkveranstaltungen am 4. September in Calais und 5. September in Dunkerque auf. [Update: Am 6. September folgte ein weiteres Gedenken in Boulogne.] „Ich fühle Wut und Frustration“, wandte sich ein Teilnehmer in Calais an die anwesenden Medien: „Viele von uns treffen sich hier jeden Monat, manchmal jede Woche, weil Menschen an dieser Grenze sterben. Ich hoffe, Sie haben die Würde – auch wenn ich weiß, dass die Zeitungen, für die Sie arbeiten, Sie wegen der großen Zahl hierher schicken –, all den anderen Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die an derselben Grenze gestorben sind. Dazu muss man sich den Kontext in Erinnerung rufen: den eines Europas, das mit seiner Politik die Bedingungen schafft, die dazu führen, dass bestimmte Menschen ihr Leben verlieren.“

Utopia 56 teilte in einem Statement mit, das es letztlich nicht um Fragen mangelnder Seenotrettung gehe, „sondern darum, dass Menschen in Gefahr gebracht werden. Die Vereine warnen seit Jahren, die Zahlen zeigen es: Die Zunahme der Repression führt zu einer Zunahme der Todesfälle. Dennoch versteifen sich die Ministerien auf eine Politik der ‚Verbunkerung der Grenzen‘ statt sichere Passagen und eine angemessene Aufnahmepolitik einzurichten. Diese Todesfälle sind politische Entscheidungen.“