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Channel crossings & UK

Fatales Patt: Die Kanalroute 2024

Schlauch eines Schubkarrenreifens mit einem Geschenkband zur Fixierung am Körper. Gefunden an einer Ablegestelle von Schlauchbooten bei Sangatte nahe Calais, 1. Dezember 2024 (Foto: Calais Border Monitoring)

2024 haben die Bootspassagen auf der Kanalroute deutlich zugenommen. Mit knapp 37.000 Personen liegt die Zahl der Ankünfte zwar niedriger als im Rekordjahr 2022, als etwa 46.000 Menschen auf diese Weise übersetzten, aber um ein Viertel höher als 2023. Das Jahr 2024 ist damit dasjenige mit den zweitmeisten Ankünften seit Entstehung der Kanalroute vor gut sechs Jahren. Allerdings ist die Passage sehr viel riskanter geworden und die 2023 begonnene Serie von Todesfällen erweist sich als dauerhaft.

Verlauf der Bootspassagen 2020 bis 2024. (Quelle: BBC)

Die britischen Behörden registrierten im Jahr 2024 die Ankunft von insgesamt 36.816 Menschen auf 695 Booten. Zum Vergleich: Über das Mittelmeer erreichten laut UNHCR im gleichen Zeitraum rund 65.500 Menschen Italien, 61.500 Griechenland, 16.500 Spanien (wohin weitere rund 43.500 Menschen auf der Atlantikroute gelangten), 6.000 Zypern und 200 Malta. Die Kanalroute bleibt damit eine der meistfrequentierte maritimen Migrationsrouten Europas, und zwar als die einzige dieser Art nördlich des Mittelmeers.

War der Rekord von knapp 46.000 Ankünften im Jahr 2022 vor allem auf ein Sonderphänomen, nämlich einen hohen Anteil albanischer Migrant_innen zurückzuführen, so fügt sich das Jahr 2024 in einen längerfristigen Trend ein: Nach einem starken Anstieg in den Jahren 2018 bis 2020 pendelten sich die Zahlen seit 2021 zunächst bei knapp 30.000 ein und steigen nun wieder an, jedoch moderater als in den Anfangsjahren.

JahrPersonenSaldoBooteSaldo
201829943
20191.843+ 516 %194+ 351 %
20208.462+ 359 %641+ 230 %
202128.526+ 237 %1.034+ 61 %
202245.755+ 60 %1.110+ 7 %
202329.437– 36 %602– 46 %
202436.816+ 25 %695+ 15 %
Gesamt151.1384.289
Ankunft von Personen und Booten im britischen Hoheitsgebiet 2018-24.
Quelle: Britische Regierung.

Noch zu Beginn des Herbstes entsprach die Zahl der Ankünfte ungefähr dem Vorjahr. Zeitweise schien es sogar, als zeichne sich ein Rückgang der Bootspassagen ab, was von der damaligen konservativen Regierung in London als ein Erfolg ihres sogenannten Ruanda-Modells dargestellt wurde.

Dieses Modell, das auf eine pauschale Inhaftierung und automatische Abschiebung der Channel migrants nach Ruanda abzielte, löste bei den Betroffenen Ängste und Verunsicherungen aus; es dürfte auch dazu geführt haben, dass manche erst einmal abwarteten. Als die britische Regierung dann im Frühjahr mit Festnahmen begann, kam es sogar zu einer Absetzbewegung aus Großbritannien nach Irland (siehe hier). Im gleichen Zeitraum dokumentierte Arte, dass einzelne Channel migrants auf Lastwagen versteckt nach Frankreich zurückkehrten oder sogar planten, auf improvisierten Booten überzusetzen. Britische Konservative und Rechtspopulist_innen behaupten bis heute, das Ruanda-Modell hätte die Migration auf der Kanalroute beenden können, wäre es nur umgesetzt worden. Betrachten wir hingegen die Zahlen, so zeigt sich, dass die Frequentierung der Kanalroute in den Phasen vor und nach dem Regierungswechsel im Juli 2024 und dem damit verbundenen Ende des Ruanda-Modells fast genau dem Vorjahr entsprach. Der Einfluss der Ruanda-Drohung auf den realen Verlauf der Migration dürfte trotz der Ängste, die sie bewusst auslöste, also stark überschätzt worden sein.

Der Anstieg der Ankünfte von 25 % gegenüber dem Vorjahr erfolgte nicht mit dem Regierungswechsel, sondern erst im Oktober 2024 und setzte sich dann in den witterungsbedingt verbliebenen Zeitfenstern bis zum Jahresende fort. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres hatten außergewöhnlich lange Wind- und Schlechtwetterperioden nur wenige Passagen zugelassen (siehe hier).

JahrPers. pro Boot (bei Ankunft)
20187
20199,5
202013
202127,5
202241
202349
202453
Anzahl der Personen pro Boot bei der Ankunft im britischen Hoheitsgebiet.
Quelle: Eigene Berechnung auf Grundlage von Daten der britischen Regierung.

Stieg die Zahl der Menschen 2024 gegenüber dem Vorjahr um 25 % an, betrug der Anstieg bei den Booten lediglich 15 %. Dies hatte zur Folge, dass sich erneut mehr Menschen auf den verfügbaren Boote befanden: Waren es 2020 bei der Ankunft im britischen Hoheitsgebiet durchschnittlich 41, stieg ihre Zahl 2023 auf 49 und 2024 auf 53. Lokale NGOs schätzen, dass sich beim Ablegen an der französischen Küste im Durchschnitt rund 60 Menschen an Bord befinden. Der Grund für diese Differenz liegt vor allem in der Praxis der französischen Seenotrettung. Kommt es zu Problemen auf See, bergen die Rettungskräfte die in Not geratenen Menschen, lassen die Boote aber passieren, sofern die verbleibenden Passagier_innen dies wünschen und kein akuter Notfall vorliegt.

Die Verknappung der Boote dient der britischen Regierung als Hebel gegen organisierte Schleusungen. Dieser Ansatz richtet sich einerseits gegen die Lieferketten der Boote, andererseits gegen ihren Transport zu den Ablegeplätzen und gegen das Ablegen selbst. Eng damit verbunden sind britische Finanzhilfen an Frankreich. Zwar ist dieses System wesentlich älter als die Bootspassagen, wurde seither jedoch erheblich ausgebaut und hat 2023 sprunghaft die Grenze zu einer dreistelligen Millionensumme pro Jahr überschritten. Der größte Teil dieser Summe dürfte in die personelle Verstärkung der Küstenwache durch französische Polizei und Gendarmerie sowie deren technisches Equipment fließen. Die Folge ist ein erhöhter Druck auf Migrant_innen beim Ablegen der Boote.

JahrHöhe der Förderung
2018/1950 Mill. €
2019/20 (Tranche 1)3,6 Mill. €
2019/20 (Tranche 2)2,5 Mill. €
2020/2131,4 Mill. €
2021/2262,7 Mill. €
2022/2372,2 Mill. €
2023/24141 Mill. €
2024/25191 Mill. €
2025/26209 Mill. €
Britische Mittel zur Untersütung gemeinsamer Maßnahmen mit Frankreich gegen irreguläre (Boots-)Passagen.
Quelle: House of Commons: Unauthorised migration – Timeline and overview of UK-
French cooperation, Research briefing by Melanie Gowner, 6. Dez. 2024, hier)

Die Aufrüstung der französischen Kanalküste gilt als wesentlicher Grund für den auffälligsten und zugleich erschreckendsten Trend: den massiven Anstieg der Todesfälle seit dem Spätsommer 2023 mit einem bislang nie dagewesenen Ausmaß im Herbst 2024. Wie die folgende Tabelle zeigt, gilt dies sowohl für die Anzahl der Ereignisse, bei denen Menschen zu Tode kamen, als auch für die Anzahl der dabei zu beklagenden Opfer. Dasselbe Muster zeigt sich bei Leichenfunden, auch wenn im Einzelfall offen bleiben muss, ob diese mit einer Bootspassage in Verbindung stehen.

EreignisseTodesopferLeichenfunde
2018000
2019113
2020283
20214305
2022252
20235122
2024205621
Todesfälle im Zusammenhang mit Bootsoassagen 2018-24.
Nicht berücksichtigt sind Vermisstenfälle, die in der Vergangenheit teils wie Todesfälle gezählt wurden.
Quelle: Calais Border Monitoring, basierend auf den Daten von Maël Galisson, hier.

Es gibt starke Indizien für diesen Zusammenhang zwischen Todesfällen und verstärkter Küstenüberwachung, insbesondere die auffällige Häufung tödlicher Situationen bei Ablegemanövern oder aufgrund unzureichend aufgepumpter und stabilisierter Boote, was durch überhastete Ablegemanöver bedingt ist. In Wechselwirkung dazu setzen Schleusernetzwerke die Menschen größeren Risiken aus, etwa wenn eine Passage in ohnehin überfüllten Booten trotz fehlender Rettungswesten geschieht. Die Situation auf der Kanalroute lässt sich als ein fatales Patt zwischen Ordnungskräften und Schleusernetzwerken beschreiben, das für die betroffenen Menschen massive Risiken und vermeidbares Leid bedeutet. Diese Situation dürfte sich weiter verfestigen und 2025 ein nicht minder tödliches Jahr werden wie 2024. Ein Ausweg aus dem Patt wird ohne ein migrationspolitisches Umsteuern nicht möglich sein, aber genau dies ist angesichts der Bedrohung der westlichen Demokratien durch die extreme Rechte und der Zuspitzung dieses Konflikts entlang der Migrationsthematik unwahrscheinlicher denn je. Umso wichtiger wird daher das Engagement der Zivilgesellschaft werden.