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Räumungen in 2024: Ein Überblick

Räumung informeller Lebensorte an den Quais der Calaiser Innenstadt, 2. Dezember 2024. (Foto: Calais Border Monitoring)

Die informellen Lebensorte der Exilierten in den Regionen Calais und Dunkerque waren im vergangenen Jahr über 800 mal Ziel polizeilicher Räumungen. Flankiert waren die Räumungen von Beschlagnahmungen und Festnahmen, der Zerstörung informeller Infrastrukturen und massiven baulichen Maßnahmen. Erstmals dokumentiert wurden in der Region um Boulogne-sur-Mer. Hier ein Überblick auf Grundlage der kontinuierlichen Beobachtung der Human Rights Observers (HRO).

Informeller Lebensorte an einem Quais unweit des Calaiser Rathauses, 2. Dezember 2024. (Foto: Calais Border Monitoring)

In Calais, wo sich die informellen Lebensorte teils in der Innenstadt, teils in den Randgebieten befinden, wird seit 2018 fast durchgängig im Abstand von 48 Stunden geräumt. Dabei sucht ein martialisch anmutender Tross von Polizeifahrzeugen nacheinander mehrere Camps auf. Der kurze zeitliche Abstand hält die rechtliche Fiktion aufrecht, gegen eine in flagranti vorgefunden Landbesetzung vorzugehen. Die Behörden untergraben damit Schutzrechte der betroffenen Menschen.

Diese Form der Räumungen zielt nicht auf die Beendigung der Camps, sondern erzeugt eine dauerhaft lebensfeindliche und stressbehaftete Umgebung. Die Camps selbst bestehen in diesem Zustand nicht selten mehrere Jahre lang, teils gab es sie bereits vor dem Start der dicht getakteten Räumungen im Jahr 2018.

Diese Praxis erklärt die enorme Zahl der Räumungen in Calais. Im Jahr 2024 dokumentierten die HRO-Teams 773 Räumungen. Zum Vergleich: In den Jahren 2019/20 waren es knapp 1.000 Räumungen jährlich, danach stieg die Zahl an und erreichte 2022 einen Höchstwert von knapp 1.700 Räumungen, begleitet von der Beschlahnahmung tausender Zelte, Schutzplanen, Schlafsäcke und anderer persönlicher Gegenstände (siehe hier). Danach ging die Zahl der Räumungen zurück. Wenn HRO für das Jahr 2024 knapp 800 Räumungen in Calais dokumentiert, bewegt sich dies ungefähr in der Größenordnung des Vorjahres 2023, das allerdings nur unvollständig dokumentiert ist (siehe hier).

Tross von CRS-Kräften durchquert dasselbe Camp während einer Räumung, bevor eine Reinifungsfirma eine Anzahl von Zelten abtransportiert, 2. Dezember 2024. (Foto: Calais Border Monitoring)

Im zeitlichen Umfeld der Olypischen Spiele, die einen Großteil der französischen Polizeikräfte banden, veränderten sich die Räumungsroutinen in Calais vorübergehend. Gab es im Januar 2024 noch rund 100 Räumungen im Abstand von etwa 48 Stunden, so veränderten sich in den folgenden Monaten die Frequenz, das Vorgehen und die Zusammensetzung der beteiligten Polizeikräfte: Im März war die bis dahin für die Räumungen verantwortliche Bereitschaftspolizei CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité) nur noch in etwa der Hälfte der üblichen Stärke präsent, ab April hatte sie die Region vollständig zu verlassen. Die Räumungen übernahm die reguläre Police Nationale, die von den der Direction nationale de la Police aux frontières (PAF) und der auf Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen spezialisierte BAF unterstützt wurde.

Hatten im Februar, März und April noch mehr als 70 Räumungen im Monat stattgefunden, dokumentierten HRO im Mai nur noch 54, im Juni 45 und im Juli 49, bevor die Zahl in den Herbstmonaten wieder anstieg. Die Räumungen fanden zudem unregelmäßiger und an einzelnen Orten in größeren Abständen statt, sodass die fragwürdige rechtliche Fiktion der flagrance nicht mehr gegeben war; ohne vorherigen gerichtlichen Räumungsbeschluss waren solche Räumungen nun auch formal illegal.

Inzwischen ist klar, dass dies nur eine Eposode war. Als wir Anfang Dezember Zeuge einer Räumung in der Innenstadt von Calais wurden, entsprach sie wieder dem altbekanntem Muster: Ein hauptsächlich aus CRS-Kräften bestehender Tross durchkämmte die Camps an den innerstädtischen Quais, deren Bewohner_innen einige Stunden zuvor damit begonnen hatten, sich und ihre Sachen in Sicherheit zu bringen. Danach sammelte eine Reinigungsfirma wahllos einige Zelte und Planen ein, bevor der Tross zur nächsten Räumung weiterfuhr und die Menschen an ihre provisorischen Lebensorte zurückkehrten.

In ihren monatlichen Berichten über das Jahr 2024 dokumentiert HRO Räumugen an sieben bis sechszehn verschiedenen Lebensorten von Exilierten in Calais. Dabei wurden zwischen fünf und 38 Personen pro Monat festgenommen. Mindestens 1.772 Zelte bzw. Schutzplanen wurden beschlagnahmt, und zwar monatlich zwischen 100 und 200, und mindestens etwa 100 mal befand sich darin noch persönlicher Besitz. Weiterhin beschlagnahmt wurden Matratzen, Paletten, Schlafsäcke, Decken, Rucksäcke, Fahrräder, Handys und Powerbanks.

HRO beobachtete durchgängig eine „Überbewaffnung der Polizeikräfte, die sehr oft mit Gummigeschossen, Tränengas, Tonfas, Schilden, Helmen usw. bewaffnet“ seien. Dieses Auftreten sei „einschüchternd und steht in keinem Verhältnis zu den jeweiligen Einsätzen“. Regelmäßig kam es zu übergriffigen Verhaltensweisen und abschätzigen Äußerungen gegenüber den Exilierten. Auch die HRO-Teams waren Machtdemonstrationen ausgesetzt, typischerweise durch missbräuchliche oder Foto-/Filmaufnahmen teils mit den privaten Handys der Polizist_innen.

###Frage: Sind hierbei Tendenzen zu beobachten? Mehr Übergriffigkeit oder weniger?

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Steinschüttung in der Innenstadt von Calais, 2. Dezember 2024. (Foto: Calais Border Monitoring)

Die Räumungen gingen im Jahr 2024 weiterhin mit baulichen Veränderungen einher, um Camps zu verdrängen oder Flächen unbrauchbar zu machen. Eine der sichtbarsten Maßnahmen ist die im Sommer 2022 begonnene Verteilung tausender Felsklötze, wie sie üblicherweise für den Küstenschutz verwendet werden, auf den Freiflächen beiderseits der innerstädtischen Quais (siehe hier). Diese großflächigen und seither mehrmals ausgeweiteten Steinwüsten verhinderten die Bildung neuer Camps nicht: Das eben erwähnte Camp entstand buchstäblich zwischen den Steinen. Im Herbst 2024 ließ Stadt nun weitere Flächen mit Steinen blockieren und ordnete diese noch einmal dichter an als in den Vorjahren.

In der Region um Dunkerque foltgen die Räumungen schon immer einem anderen Protokoll, insbesondere die Räumungen im 48-Stunden-Turnus werden hier weiterhin nicht praktiziert. Vielmehr fanden in den meisten Monaten des Jahres 2024 bis zu sechs massive Räumungen statt, bei denen große Mengen an Zelten und zurückgelassenen Gegenständen entsorgt und in vielen Fällen die informellen Läden und Imbisse im Camp zerstört werden; in einem Fall berichtete HRO auch von der Zerstörung einer improvisierten Moschee. Die Räumungen führten trils zur Auflösung des Campstandortes, der beispielsweise durch Umpfügen unbrauchbar gemacht wurde.

Ähnlich wie in Calais, fanden bei Dunkerque umfassende bauliche Maßnahmen statt. Von Herbst 2023 bis Frühjahr 2024 entstand auf einem zum Hafen gehörenden Brach-, Gebüsch- und Gewerbegebiet ein System von Zäunen, das die als Jungle von Loon-Plage bekannten Camps verdrängt und die Bewegungsfreiheit der Exilierten stark beeinträchtigt (siehe hier). Im Herbst 2024 wurde die Anlage weiter ergänzt. Die Zäune bewirken, „dass die Orte für die Exilierten immer feindseliger werden. Sie werden zu Käfigen unter freiem Himmel und behindern, verlängern und verunmöglichen ihre Bewegungen“, so HRO.

Zaunanlage im Jungle von Loon-Plage, Juli 2024. (Foto: Calais Border Monitoring)

Anders ist die Situation in der dritten Teilregion des nordfranzösischen Migrationsraums, der Region um Boulogne-sur-Mer. Trotz der Vielzahl von Bootsabfahrten bestehen dort bislang keine festen Camps. Üblicherweise kommen Passagier_innen aus Dunkerque bzw. Calais hierher und reisen im Fall eines Scheiterns in die dortigen Camps zurück. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch dort kleinere bzw. temporäre Aufenthaltsorte gäbe, etwa, wenn Bootspassagen nicht zum zunächst festgelegten Termin stattfinden.

So veröffentlichte HRO ein Handyvideo eines Exilierten namens A., das die Räumung nördlich von Boulogne-sur-Mer am 20. Juli 2024 zeigt. Betroffen war eine Gruppe von 45 Personen, die von etwa 30 Polizist_innen unter Einsatz von Tränengas „von ihrem informellen Lebensort in Wimereux von 30 Beamten der Police Nationale vertrieben“ wurden. A. habe die Szene gefilmt, um zu dokumentieren, „was vulnerable Menschen jeden Tag erleben“. Das Video dokumentiert folgenden Dialog: Polizist (auf Französisch): „Oh eh, mach kein Foto!“ – A. (auf Englisch): „Why do you use your gaz?“ – Polizist (auf Französisch): „Ich wollte dir dein Telefon kaputtmachen“ – A. (auf Englisch): „How you’ll break? Why do you use your gaz?“ – Polizist (auf französisch, während er näher kommt): „Ich werde dir die Fresse polieren [und dabei auf den Exilanten zugehen], das wird klar und deutlich sein. Das Telefon werde ich dir in den Arsch schieben! Hau ab! Los, weg da!“