Am 5. September 2021 war es ein Jahr her, dass Aleksandra Hazhar wenige Tage nach der Geburt starb. Ihr Tod steht sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Verhalten einer Gendarmeriepatrouille, die der Mutter jede medizinische Hilfe verweigerte, obwohl die Geburt eingesetzt hatte (siehe hier und hier). Während die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu dem Fall noch andauern, ist der Jahrestag des Todes Anlass mehrerer öffentlicher Interventionen, die die tödlichen Konsequenzen der Grenzpolitik in den Blick rücken sollen.
Eine Gruppe namhafter Wissenschaftler_innen, Intellektueller und Aktivist_innen, unter ihnen Michel Agier, Etienne Balibar und Didier Fassin, veröffentlichte am 5. September gemeinsam mit 22 zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Internet-Zeitung Mediapart den Aufruf Justice pour Aleksandra (Gerechtigkeit für Aleksandra). Darin schildern sie erneut die Umstände, unter denen die Mutter gebären musste und die vermutlich dazu führten, dass die Ärzte nach drei Tagen im Einvernehmen mit den Eltern Rupak und Hazhar die künstliche Beatmung des schwer geschädigten Kindes einstellten: Die vierköpfige kurdisch-irakische Familie gehörte zu einer Gruppe von Geflüchteten, die in der Nacht vom 1. auf den 2. September 2020 bei Calais an einer Bootsüberfahrt gehindert worden waren. Während die Gruppe am Strand festgehalten wurde, setzte die Geburt ein, doch die Gendarmen holten keine Hilfe und ließen die Leute schließlich an Ort und Stelle zurück. Erst nach Stunden gelangte die Mutter ins Krankenhaus. Als der Fall allmählich öffentliche Aufmekrsamkeit erregte, gab die Präfektur des Pas-de-Calais im März 2021 eine Pressemitteilung heraus, in der sie die Gendarmen von der Verantwortung zu entlasten und den Eltern die Schuld zuzuschieben versuchte.
Der Aufruf wendet sich gegen solche Exkulpationen und stellt den Fall stattdessen in den Kontext der franko-britischen Grenzpolitik:
„Der Tod von Aleksandra Hazhar ist kein Einzelfall. Seit 1999 wurden an dieser Grenze mehr als 300 Todesfälle ausländischer Personen registriert. […] Der Tod von Aleksandra Hazhar ist somit die Folge einer öffentlichen Politik, die aus einer Reihe von Verträgen und bilateralen Abkommen zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich hervorgegangen ist und dieses Grenzgebiet in eine Todeszone für Exilierte verwandelt hat. Die Vervielfachung des Gefüges zur Kontrolle der Grenze zwingt die Exilierten zu immer gefährlicheren Passagetechniken und macht den Rückgriff auf die Netzwerke der Schleuser (passeurs), die die Behörden angeblich bekämpfen wollen, immer notwendiger. Letztendlich liegt die Verantwortung nicht bei Exilierten wie Rupak und Hazhar, die gezwungen sind, diese Überfahrten zu unternehmen, sondern bei den Regierungen, die diesen Menschen jede andere Möglichkeit vorenthalten. Wir, die Unterzeichner_innen dieses Aufrufs, erklären unsere Solidarität mit Rupak und Hazhar und fordern, dass Aleksandra Hazhar Gerechtigkeit widerfährt und ihrer gedacht wird. Wir fordern, dass die genaue Verantwortung der Gendarmen ebenso wie der administrativen und politischen Behörden für diese Tragödie und für die Umsetzung der mörderischen Politik in Calais und in der Region aufgeklärt wird.“
Währenddessen begann in Calais eine öffentliche Aktion, in deren Verlauf während des Monats September eine mobile Gedenkstätte für die rund 300 dokumentierten Grenztoten geschaffen werden soll. Zahlreiche Gruppen der lokalen Geflüchtetensolidarität beteiligen sich an der Aktion des Vereins Shanti, über die auch die Lokalzeitung La voix du Nord wohlwollend berichtete. Zweimal wöchentlich veranstalten die Initiator_innen eine Werkstatt, bei der Einwohner_innen und Exilierte die Holzelemente der Gedenkstätte mit den Namen der Opfer versehen können, sofern diese bekannt sind. Das Blatt zitiert die Initiator_innen mit der Aussage, das Projekt stehe für „eine Welt der offenen Grenzen“: „Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass Menschen in Calais sterben, weil sie von einer besseren Zukunft auf der anderen Seite des Ärmelkanals träumen.“
Die Aktion reiht sich in eine Anzahl von Kampagnen ein, mit denen lokale zivilgesellschaftliche Akteure seit dem Frühjahr verstärkt in die Öffentlichkeit treten und den Dialog mit der einheimischen Bevölkerung suchen.