Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Calais und anderen nordfranzösischen Orten besteht bislang eine Chance, legal nach Großbritannien einreisen zu dürfen. Sofern Familienangehörige dort lebten, können sie sich auf Regelungen zur Familienzusammenführung in der Dublin-Verordnung der EU berufen. Für weitere Kinder und junge Jugendliche, die aufgrund ihrer Lebensumstände besonders gefährdet waren, war 2016 eine gesetzliche Sonderregelung, das Dubs Amendment nach dem historischen Vorbild der sogenannten Kindertransporte zur Rettung jüdischer Kinder in den Jahren 1938/39 geschaffen worden. Wie in den vergangenen Tagen bekannt wurde, hat die britische Regierung unter Boris Johnson dieses sogenannte Dubs-Verfahren für beendet erklärt und beabsichtigt darüber hinaus, die Regelungen zur Familienzusammenführung im Zuge der weiteren Brexit-Verhandlungen mit der EU abzuschaffen.
Wer sich im Jahr 2016 mit dem Jungle von Calais beschäftigt hat, dürfte auf das Dubs Amendement gestoßen sein. Der etwas sperrige Begriff stand damals für die Hoffnung, dass zumindest ein Teil der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen legal und sicher nach Großbritannien einreisen dürften. Zu dieser Zeit erlebte der Jungle einen monatlichen Zuwachs von etwa 1000 Personen, wuchs auf eine Hütten- und Zeltstadt mit über 10.000 Bewohner_innen an und stand wie danach niemals mehr im Fokus der internationalen Öffentlichkeit.
Initiator und Namensgeber war der britische Labour-Politiker Lord Alfred Dubs, der zu jenen Kindern gehört hatte, die im Rahmen der historischen Kindertransporte aus dem nationalsozialistischen Machtbereich gerettet worden waren und in Großbritannien Zuflucht gefunden hatten. Unter bewusster Bezugnahme diese historische Initiative und mit Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Safe Passage und Help Refugees setzte Dubs im Mai 2016 einen Zusatz (amendment) zum britischen Immigration Act 2016 durch. Dieser verpflichtete die Regierung, zusätzlich zu den sonstigen Asyl- und Einreisebestimmungen eine bestimmte Zahl besonders schutzbedürftiger unbegleiteter Minderjähriger vom europäischen Festland aufzunehmen. Der als § 67 in den Immigration Act 2016 aufgenommene Zusatz besagte:
„The Secretary of State must, as soon as possible after the passing of this Act, make agreements to relocate to the United Kingdom and support a specified number of unaccompanied refugee children from other countries in Europe.“
Die Zahl der aufzunehmenden Minderjährigen definierte das Gesetz nicht, allerdings findet sich in der damaligen politischen Debatte immer wieder die Zahl 3.000, ein angesichts der damaligen wie auch der heutigen Situation niedrig angesetzter Wert, der jedoch realpolitisch durchsetzbar schien. Im Zuge der Umsetzung des Dubs Amendment sollte er durch die britische Regierung auf 480 reduziert werden.
Wie Help Refugees rückblickend darlegte, stützte sich das britische Home Office (Innenministerium) dabei auf die Zahl von 480 gemeldeten Aufnahmeplätzen in den Kommunen, die zuvor bei den lokalen Behörden abgefragt worden waren. Allerdings stellte sich bald heraus, dass die Bereitschaft der Kommunen zur Unterstützung des Dubs-Verfahrens erheblich größer war und bereitstehende Plätze nicht in die Zahl eingeflossen waren. So hatte das Home Office nur jeweils sechs Plätze für Schottland und Wales registriert, weil 91 % der schottischen und 86 % der walisischen Plätze von den lokalen Behörden erst nach einer Deadline gemeldet worden waren, die diesen offenbar überhaupt nicht bekannt gewesen war. In Nordirland wurde die Abfrage zwar begonnen, dann aber eingestellt. Diese Umsetzung des Dubs Amendment war Gegenstand mehrerer Klagen gegen die Regierung, u.a. nachdem diese am 8. Februar 2017 bekannt gegebenen hatte, das Verfahren nach der Aufnahme von nur 350 Personen beenden zu wollen. Im Verlauf des Verfahrens stellte sich heraus, dass das Home Office 130 gemeldete Plätze im Südwesten Englands – die Differenz zu den späteren 480 Plätzen – schlicht ignoriert hatten.
Das Dubs-Verfahren war zunächst auf Calais ausgerichtet, wo die Zahl der von den zivilgesellschaftlichen Organisationen gezählten unbegleiteten Minderjährigen zwischen Februar und Oktober 2016 von über 400 auf knapp 1300 zuzüglich eines Dunkelfeldes angestiegen war. Im Kontext der Räumung des Jungle im Oktober 2016 konnten dann 280 besonders gefährdete Kinder und junge Jugendliche legal nach Großbritannien einreisen. Hinzu kamen weitere Kinder und Jugendliche, die nach der Dublin-Verordnung zwar das Recht auf Zusammenführung mit Familienangehörigen in Großbritannien besaßen, es jedoch nicht geltend machen konnten. Da die französischen und britischen Behörden jedoch nicht über die Kapazitäten zur Durchführung einer größeren Zahl solcher Verfahren verfügten, etablierte das Home Office in dieser Situation ein weiteres Verfahren, das sich zwar an der Dublin-Verordnung orientierte, jedoch letztlich irregulär blieb, intransparent durchgeführt wurde und keine Rechtsmittel für die Betroffenen bot. Auf der Grundlage dieser drei Verfahren (Dubs, Dublin und irreguläres Verfahren) durften im Herbst und Winter 2016/17 etwa 850 Minderjährige legal nach Großbritannien einreisen.
Als erste dieser drei Möglichkeiten schaffte die britische Regierung das irreguläre Verfahren wieder ab. Gleichzeitig erklärte sie, im Rahmen des Dubs-Verfahrens keine Minderjährigen mehr aus Frankreich, sondern aus Italien und Griechenland aufnehmen zu wollen. Anlässlich der Vorstellung der britischen Einwanderungsstatistik am 21. Mai 2020 wurde nun bekannt, dass die Regierung das Dubs-Verfahren vollständig beendet hat.
Help Refugees erklärte am gleichen Tag, angesichts der geringen Zahl aufgenommener Kinder und der über drei Jahre währenden Rechtsstreite sei es „übertrieben, das Dubs-Verfahren einen ‚Erfolg‘ zu nennen“: „Über 215.000 unbegleitete Minderjährige haben in der Europäischen Union seit 2015 Asyl beantragt. Das Vereinigte Königreich hat nur eine winzige Zahl dieser Kinder willkommen geheißen. Und nur eine verschwindend kleine Zahl hat unsere Küsten auf sicheren und legalen Routen erreicht. Ein unvorstellbar träges, ineffizientes und unfaires Asylverfahren belässt Tausende von Kindern in limbo.“
Wie die Zeitung Guardian am 24. Mai berichtete, plant die britische Regierung nun, auch die Familienzusammenführungen gemäß der Dublin-Vereinbarung zu kippen. Hatten sowohl Johnson als auch Innenministerin Priti Patel im Februar und März dieses Jahres erklärt, weiterhin mit der EU bei der Familienzusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge kooperieren zu wollen, so scheint nun das Gegenteil einzutreten.
Dies soll nun im Rahmen der bevorstehenden Verhandlungsrunde zur Ausarbeitung des Brexit-Vertrags geschehen. Der Guardian schreibt hierzu: „Das Innenministerium hat Pläne ausgearbeitet, um das derzeitige System der Zusammenführung von Flüchtlingskindern mit der Familie in Großbritannien zu beenden, so der Textentwurf eines Brexit-Verhandlungsdokuments der Regierung“. Das Dokument mit dem Titel working text for an agreement between the UK and EU on the transfer of unaccompanied asylum-seeking children besagt demnach, dass die Regierung in der Familienzusammenführung keine obligatorische Verpflichtung mehr sieht. Stattdessen sollen die EU-Staaten in Zukunft den Transfer eines Minderjährigen nach Großbritannien beantragen können, ohne dass das Innenminsiterium darauf reagieren müsse. Noch einschneidender wertet die Zeitung die Aussage der Regierung, Flüchtlingen nicht länger „Rechte verleihen“ zu wollen und keinen Rechtsweg zur gerichtlichen Anfechtung falscher Entscheidungen mehr zulassen. „Im Ergebnis würde der Prozess der Aufnahme von Flüchtlingskindern völlig im Ermessen [der britischen Behörden] liegen“, so der Guardian. Während ein Sprecher des Innenministeriums erklärte, der Schutz vulnerabler Minderjähriger sei weiterhin eine „Hauptpriorität“ der Regierung, kritisierten Organisationen der Flüchtlingshilfe dies scharf. In Meinungsumfragen sprachen sich 79 % für die weitere Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger aus. Eine von zwei britischen Calais-Volunteers gestartete Petition wurde in kurzer Zeit von über 330.000 Personen unterzeichnet.
Was bedeutet dies im aktellen Kontext?
Das Auslaufen des Dubs-Verfahrens war zu erwarten gewesen. Für Calais hatte es in den letzten Jahren ohnehin keine Rolle mehr gespielt. Umso wichtiger wäre daher der Ausbau legaler Einreiseverfahren für unbegleitete Minderjährige und die Schaffung funktionierender Strukturen gewesen, um die Betroffenen über diese Rechte zu informieren und ihnen Zugang zu den entsprechenden Verfahren zu verschaffen. In den vergangenen Jahren wurde dieser Zugang zum Recht allerdings weniger von staatlichen Stellen gewährleistet, als von zivilgesellschaftlichen Unterstützer_innen durchgesetzt. Die aktuelle Entwicklung bedeutet, dass unbegleitete Minderjährige, die heute noch einen Rechtsanspruch auf eine Familienzusammenführung in Großbritannien haben, diesen Anspruch verlieren. Sie werden damit gezwungen sein, sich verstärkt (kriminellen) Schmuggler-Netzwerken anzuvertrauen und den riskanten Weg einer Bootspassage oder eines Verstecks auf einem Frachtfahrzeug zu wählen. Die Vergangenheit in Calais und vor allem in Grande-Synthe hat gezeigt, dass diese besonders vulnerable Personengruppe einem erheblichen Risiko durch sexuellen Missbrauch und Zwangsprostitution ausgesetzt ist.
Allerdings ist dies nicht alles. Denn nachdem sich nun die Bootspassagen über den Ärmelkanal zu einem stark frequentierten und effektiven Migrationspfad entwickelt haben (siehe hier, hier und hier), setzte die britische Regierung zwar verstärkt auf restriktive Maßnahmen. Es mag sein, dass auch dies die politische Wende der Regierung Johnson hin zur Kappung sicherer Passagen für unbegleitete Minderjährige motiviert. Doch spricht aus unserer Sicht vieles dafür, dass die Dynamik dieser „Channel crossings“ weiter zunehmen und längerfristig anhalten wird. Dies aber bedeutet, dass sich auch der Raum für die politische Auseinandersetzung um legale und sichere Einreisewege öffnet.