Im Jahr 2023 ist die Zahl der Bootspassagen erstmals deutlich zurückgegangen. Hatten 2022 noch etwa 46.000 Menschen den Ärmelkanal auf diese Weise überquert, waren es 2023 knapp 30.000 und damit nur geringfügig mehr als 2021. Bis dahin hatte die Zahl der Passagen von Jahr zu Jahr zugenommen, worauf die britische Regierung mit einer Abkehr von sicher geglaubten Mindestnormen in der Asylpolitik reagierte. Analysiert man die Situation jedoch genauer, so zeigt sich, dass das Jahr 2023 wohl kein Wendepunkt hin zu einer allmählichen Schließung der Kanalroute war. Auch lässt sich der Rückgang nicht allein als Erfolg der Stop the baots-Politik der britischen Regierung erklären. Hier ein Rückblick auf das vergangene und einige Thesen zum begonnenen Jahr.
Weniger Passagen, höheres Risiko
Die britischen Behörden registrierten im Jahr 2023 insgesamt 29.437 Personen, die in 602 Booten übergesetzt hatten. Zum Vergleich: Über das Mittelmeer erreichten nach Angaben des UNHCR im gleichen Zeitraum rund 154.000 Menschen Italien, 55.000 Spanien und 46.000 Griechenland. Weniger frequentiert als die Kanalroute waren die Routen nach Zypern (6.000 Personen) und Malta (400 Personen).
Anders als auf dem Mittelmeer, sind die Bootspassagen des Ärmelkanal erst ein Phänomen der letzten Jahre. Bis 2017 nutzten Migrant_innen in der Regel Lastwagen, manchmal auch Züge, um über die britische Grenze zu gelangen. Bootspassagen waren seltene Einzelfälle, die keine Reaktionen von Politik und Behörden auslösten. Das Jahr 2018 war der Wendepunkt: Boote wurden für viele Migrant_innen rasch zum Mittel der Wahl, sodass die Kanalroute von Jahr zu Jahr stärker frequentiert wurde. 2023 war dies erstmals nicht mehr der Fall:
Jahr | Personen | Saldo | Boote | Saldo |
2018 | 299 | – | 43 | – |
2019 | 1.843 | + 516 % | 194 | + 351 % |
2020 | 8.462 | + 359 % | 641 | + 230 % |
2021 | 28.526 | + 237 % | 1.034 | + 61 % |
2022 | 45.755 | + 60 % | 1.110 | + 7 % |
2023 | 29.437 | – 36 % | 602 | – 46 % |
Gesamt | 114.322 | 3.624 |
Betrachten wir das Jahr 2023 genauer: Bis zum Sommer hatte die Zahl der Überfahren zunächst geringfügig unter dem Vorjahr gelegen. Die britische Regierung nutzte dies frühzeitig, um einen Erfolg ihrer Stop the boats-Politik zu verkünden. Deutlicher wurde der Rückgang der Bootspassagen dann in den Spätsommer- und Herbstmonaten. Hatten die Bootspassagen in den Vorjahren zwischen September und November Rekordwerte erreicht, wurde der Rückgang nun immer deutlicher. Dieselben Monate waren 2023 allerdings von Wind- und Schlechtwetterperioden geprägt, die nur kurze Zeitfenster für eine Passage zuließen.
Gleichzeitig zeigen die britischen Daten, dass die Zahl der Boote sehr viel stärker zurückging als sie Zahl der Passagier_innen. Bereits 2022 waren kaum mehr Boote eingesetzt worden als 2021, obschon die Zahl der Passagier_innen um 60 % zunahm. Im Jahr 2023 setzte sich diese Entwicklung fort: Während die Zahl der Passagier_innen um 35 % zurückging, sank die der Boote um 46 %. In absoluten Zahlen: Die fast 30.000 Passagier_innen des Jahres 2023 hatten nur geringfügig mehr Boote zur Verfügung als die knapp 8.500 Passagier_innen des Jahres 2020.
Jahr | Personen pro Boot (Durchschnitt) |
2018 | 7 |
2019 | 9,5 |
2020 | 13 |
2021 | 27,5 |
2022 | 41 |
2023 | 49 |
Hatten die Überfahrten in den Anfangsjahren zum Teil selbstorganisiert stattgefunden, so verweist der Anstieg der durchschnittlichen Personenzahl pro Boote auf 41 im Jahr 2022 und 49 im Jahr 2023 auf die Vormacht kommerzieller Schleusungsnetzwerke. Auch Berichte über Boote mit 60 bis 70 Menschen sind längst keine Seltenheit. Eingesetzt werden lange halbfeste Schlauchboote chinesischer Produktion und minderer Qualität, deren Böden provisorisch verstärkt werden, sodass die Boote beim Nachgeben der Böden zur tödlichen Falle werden können. Häufig sind die Boote nicht ausreichend motorisiert, teils fehlen Rettungswesten. Es wird berichtet, dass das minderwertige Material der Boote bei niedriger Wassertemperatur zu Schäden neigt.
Konnte die Kanalroute in den ersten Jahren als vergleichsweise sicher gelten (auch gegenüber dem riskanten Verstecken auf Lastwagen oder Zügen), so ist das Risiko gestiegen:
Jahr | tödliche Ereignisse | Todesopfer |
2018 | 0 | 0 |
2019 | 3 | 4 |
2020 | 3 | 9 |
2021 | 5 | 38 |
2022 | 2 | 5 |
2023 | 6 | 13 |
Gesamt |
Quelle: Calais Border Monitoring.
Obwohl weniger Passagier_innen und weniger Boote übersetzten, kam es 2023 zu mehr Ereignissen mit Todesfällen. Teils starben Menschen in chaotischen Situationen beim Ablegen der Schlauchboote, die mit Polizeieinsätzen einhergingen, teils bei Havarien auf See. Bei der schlimmsten Havarie des Jahres ertranken am 12. August 2023 sechs Menschen. Die meisten anderen tödlichen Vorfälle gab es im November und Dezember 2023: Für mindestens zwei von sechs Wetterfenstern (22. November und 15. Dezember) sind Havarien dokumentiert, bei denen mindestens fünf Menschen starben und weitere vermisst werden. Angesichts der stark überladenen Boote erscheint es dabei noch als ein Glück, dass sich das Szenario vom 24. November 2021 nicht wiederholt hat: Damals waren 31 der 33 Passagier_innen eines Boots ertrunken, auch weil ein Rettungseinsatz stundenlang ausblieb.
Der Rückgang der Bootspassagen spiegelt sich auch in Zahlen der französischen Seepräfektur (Préfecture de la Manche et de la mer du Nord; PREMAR). Demnach registrierte die Behörde zwischen dem 1. Januar und 15. Dezember 2023 annähernd 35.000 Personen bei gescheiterten oder verhinderten Überfahrten (wobei Personen auch mehrfach gezählt wurden). Mehr als 6.000 Menschen seien bei etwa 780 Einsätzen auf See gerettet werden. Im Jahr 2022 waren etwa 52.000 Personen bei gescheiterten Überquerungen registriert worden, von denen 7.200 Personen gerettet werden mussten.
Warum der Rückgang?
Ein Erfolg repressiver Politik? Der Rückgang der Boote kann auf den ersten Blick als Erfolg der Stop the boats-Politik erscheinen und wird von interessierter Seite auch so vermarktet. In den Jahren 2022/23 umfasste diese Politik: eine gesetzliche Neuregelungen zum Ausschluss der Channel migrants aus dem britischen Aufnahmesystem, ihrer Inhaftierung und ihrer Deportation in Drittländer, den Abschluss entsprechender Vereinbarungen mit Ruanda, die Etablierung lagerartiger Massenunterkünfte, die organisatorische Neuaufstellung der Überwachung des Ärmelkanals unter Einbeziehung von KI-Technologien, ein Abkommen zur Erleichterung von Abschiebungen nach Albanien, Vereinbarungen mit Social media-Unternehmen zur Eindämmung der Werbung kommerzieller Schleuser_innen, die Aufstockung der Ressourcen zur Überwachung der nordfranzösischen Küstenlinie, die grenzübergreifende Zusammenarbeit von Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden unter Einbeziehung von EU-Institutionen sowie Maßnahmen gegen die Lieferketten und Transportwege von Schlauchbooten, Bootsmotoren und sonstigem Equipment. Hinzu kommen Maßnahmen Frankreichs und der EU, darunter der Einsatz eines Frontex-Flugzeugs.
Diese Fülle teils martialischer Maßnahmen erweckt den Eindruck einer Festung Großbritannien als Festung Europe im Kleinen, auch wenn es wesentliche Unterschiede gibt: So unterhalten Großbritannien und Frankreich aktive Seenotrettungen für Geflüchtete, die nie grundlegend in Frage gestellt wurden. Auch die von Großbritannien zeitweise angestrebten Pushbacks kamen nie zustande. Oft haben wir an dieser Stelle auch herausgearbeitet, dass Maßnahmen an rechtlichen Hürden scheiterten, nur teilweiweise umgesetzt werden konnten oder ins Leere liefen. So dürften vor allem drei Strategien die Kanalroute beeinflusst haben: Die Verknappung der Boote, die Überwachung der Küste und die Zusammenarbeit mit Albanien.
Verknappung der Boote. Die oben ausgewerteten Daten deuten darauf hin, dass die Maßnahmen gegen die Lieferketten die Zahl der Boote verringert haben. Dieser Punkt steht auch im Zentrum der 2021 institutionalisierten Zusammenarbeit Großbritanniens und Frankreichs mit Deutschland, Belgien, den Niederlanden sowie Europol und Eurojust im sogenannten Calais-Format (auch: Calais group). Ein bilaterales Abkommen mit der Türkei als Transitland der Boote zielt in dieselbe Richtung. Konkret wurde der Druck auf die Infrastrukturen und das Personal der Schleusungsnetzwerke in den genannten Ländern erhöht. Die Zusammenarbeit erlaubte größere Ermittlungserfolge, ohne jedoch die in Drittländern wie dem Irak ansässige Leitungsebene greifen, die Infrastrukturen als Ganzes zerschlagen oder die Übernahme des Geschäfts durch die Konkurrenz verhindern zu können. All dies erschwert aber die Zwischenlagerung der Boote in Deutschland, ihren Transport durch die Belenux-Staaten in die Kanalregion, das Erreichen der Ablegestellen und schließlich das Zuwasserlassen und Ablegen der Boote, bei dem es immer wieder zu gewaltsamen Eskalationen und unnötig riskanten Situationen kommt. Entgegen der humanitären Rhetorik, Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren, verhinderte die Verknappung nicht die Bootspassagen, führte aber zu einer größeren Personenzahl an Bord und einem höheren Risiko für die Betroffenen.
Verbunkerung der Küste. Eng damit verbunden ist die personelle, materielle und technologische Verstärkung der Küstenüberwachung durch französische Polizeien und Militär (Gendarmerie). Bis zur Etablierung der Kanalroute hatte sich die Überwachung auf den Kanaltunnel, die Fährhäfen und die dorthin führenden Autobahn- und Eisenbahnstrecken konzentriert, nicht aber auf die dazwischen gelegene Küste. Die Erschließung der maritimen Kanalrote erwischte die Behörden kalt, die Absicherung der Küste musste nachholend erreicht werden. Hierfür stellt Großbritannien, jährlich steigend, erhebliche Summen bereit. Lokale Medien bezeichnen diesen Prozess pointiert als Verbunkerung der Küste. Inzwischen wird der neuralgische Küstenabschnitt mit einer Länge von etwa 200 Kilometern von 800 Polizisten_innen und Gendarmen, darunter 400 Reservisten, überwacht, die mit geländegängigen Fahrzeugen, Drohnen, Nachtsichtgeräten und ähnlichem Equiment ausgerüstet sind. Auf der Basis des britisch-französischen Vertrags von Sandhurst stellte Großbritannien hierfür 72,2 Millionen Euro für 2022/23 und 543 Millionen Euro bis 2026 bereit. Wer in den vergangenen Jahren regelmäßig in der Region unterwegs war, konnte die Zunahme der Kontrolldichte gut wahrnehmen. Allerdings merkte die mit der lokalen Situation gut vertraute Zeitung La voix du Nord zum Jahresende an: „Die erheblichen personellen und materiellen Ressourcen, die an unseren Küsten zur Bewachung der englischen Grenze eingesetzt werden, erklären nicht allein den erheblichen Rückgang erfolgreicher Überquerungen des Ärmelkanals zwischen 2022 und 2023.“
Ende eines Sonderphänomens. Der Rückgang der Bootspassagen resuliert wohl zum größten Teil aus dem starken Rückgang der Migration von Albaner_innen. Diese Herkunftsgruppe hatte vor 2022 kaum eine Rolle gespielt, machte dann aber für eine kurze Zeit den größten Anteil der Passagier_innen aus. Dies war auch ein Grund für die Rekordzahl an Überfahrten in 2022. Gelangten 2022 über 12.000 Albaner_innen per Schlauchboot nach Großbritannien, sank ihre Zahl 2023 auf etwas mehr als 2.000 Personen. Sowohl der Anstieg in 2022 als auch der Rückgang in 2023 resultierten also in einer Größenordnung von etwa zehtausend Personen aus demselben Sonderphänomen.
Das Wetter. Anders als in den Vorjahren, war das Wetter 2023 in den Sommermonaten von starken Winden und im Spätherbst durch eine langanhaltende Schlechtwetterperiode geprägt. Lokale Beobachter_innen und überregionale Medien wie BBC sehen hierin einen weiteren und wesentlichen Grund für den Rückgang der Passagen, der bezeichnenderweise ab dem Sommer besonders deutlich ausfiel. Parallel stieg die Zahl der Personen an, die im Jungle von Loon-Plage – dem letzten Aufenthalt der meisten Bootspassagier_innen in Frankreich – auf eine Gelegenheit zur Überfahrt warteten. Bei einem Besuch Ende November ließ sich dieser Rückstau gut beobachten: Viele hielten sich bereits wochenlang in den völlig durchnässten Camp auf, hatten mehrere gescheiterte Versuche hinter sich oder dachten in dieser Situation darüber nach, die nächste Zeit an einem anderen Ort zu verbringen.
Und 2024?
Wir können 2023 als ein Jahr begreifen, in dem verschiedene Faktoren einen Rückgang der Bootspassagen bewirkten, der in diesem Maße wohl auch von den britischen Behörden nicht erwartet worden war. Diese waren zu Jahresbeginn inoffiziell noch von rund 60.000 Passagier_innen ausgegangen, auch wenn Zahl bereits im damaligen Kontext sehr hoch gegriffen war.
Unter den Gründen für den Rückgang macht die Stop the boats-Politik – und zwar die Verknappung der Boote, die Verbunkerung der Küste – nur einen von mehreren Faktoren aus. Der Rückgang dürfte zu einem großen Teil auf das Ende des Sonderphänomens der albanischen Migration (und die dagegen gerichten Vereinbarungen Großbritanniens mit Albanien) sowie die ausgesprochen ungünstige Witterung zurückzuführen sein. Hinzu kommen möglicherweise migratorische Dynamiken im übrigen Europa und an den europäischen Außengrenzen, die sich erfahrungsgemäß erst zeitversetzt auf die Kanalregion auswirken, und eventuell das Ausweichen auf Verstecke in Lastwagen.
Das Jahr 2023 war also kein Kipppunkt, ab dem die Kanalroute nun von Jahr zu Jahr weniger frequentiert würde. So nannte Lucy Morton von der Immigration Services Union, der Gewerkschaft der britischen Einwanderungsbehörden, den Rückgang der Bootspassagen einen „Ausrutscher“ (glitch), der sich voraussichtlich nicht fortsetzen wird: „Die Planungsannahme für 2024 ist, dass 2023 ungewöhnlich niedrig war. Es gab verschiedene Faktoren, die die Planung erschwert haben – wir hatten besonders starke Winde und eine größere Anzahl von Tagen, an denen es weniger wahrscheinlich ist, dass wir Migranten in Booten bekommen. Aber wir hatten auch viel größere Boote, viel seetüchtigere Boote, so dass die Planung davon ausgeht, dass es sich um einen Ausrutscher handelt.“ Für 2024 wird demnach wieder mit einer Zunahme der Passagen gerechnet.
Unsere Prognose ist, dass sich die Bootspassagen in den kommenden Jahren in einem bestimmten Bereich einpendeln werden, der etwa in der Größenordnung der Jahre 2021 und 2023 oder vielleicht etwas darüber liegen könnte. Die Stop the boats-Politik wird die Boote nicht stoppen, jedoch das Leid und das Risiko der betroffenen Menschen weiter vergrößern. Als politische Kampagne wird sie jedoch fortgeführt und dürfte im bevorstehenden britischen Wahlkampf eine zentrale Rolle spielen. Die Radikalisierung der britischen Migrationspolitik wird, so ist zu befürchten, auch zu mehr politischer Instabilität in Europa führen, denn sie erzeugt einen gefährlichen Mythos: Durch die Übernahme der migrationspolitischen Agenda der extremen Rechten habe am Ärmelkanal eine Trendwende erreicht werden können, und man müsse diesen Weg nur weiter gehen, um Migration auf gleichsam magische Weise zu stoppen.