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Small boats im Wahlkampf

Positionen britischer Parteien zur Kanalroute

Die bevorstehende Neuwahl der französischen Nationalversammlung führt die Möglichkeit vor Augen, dass Frankreich als liberale Demokratie scheitert. Die kurzfristig anberaumte Wahl am 30 Juni und 7. Juli fällt zeitlich mit der ebenfalls vorgezogenen Wahl des britischen Unterhauses am 4. Juli zusammen. Besteht in Frankreich die Gefahr einer von den Konservativen gestützten rechtsextremistischen Regierung, dürften die britischen Konservativen ihre parlamentarische Mehrheit verlieren. Sollte es zum erwarteten Machtwechsel in London kommen, so könnten sich Spielräume für eine Deradikalisierung der Grenzpolitik und für humanitäre Teillösungen eröffnen. Der historisch gewachsene Kern des Grenzregimes könnte zugleich jedoch auf eine problematische Weise gestärkt werden. Wir untersuchen in diesem Beitrag, welche Aussagen britische Parteien zur kananülergreifenden Migration und zur Grenzpolitik treffen.

Tories: Ruanda-Deal und Obergrenze

Folgt man aktuellen Statements von Premierminister Sunak, so scheint alles vorbereitet, um nach dem 24. Juli 2024 einmal im Monat Menschen nach Ruanda fortzuschaffen, die auf Schlauchbooten nach Großbritannien gelangt sind. Es bedürfe, so die Botschaft, lediglich seiner Wiederwahl, und die Flugzeuge abheben zu sehen.

Entsprechend zeichnet auch die Conservative Party in ihrem Wahlprogramm das Bild einer schon jetzt erfolgreichen Eindämmung der small boats, die durch den Start der Ruanda-Abschiebungen vollendet werden könne. Das Festhalten an diesem Projekt ist erwartungsgemäß eine Kernaussage des Programms. Mit dem Festhalten an der Ruanda-Strategie hält die Partei zugleich daran fest, sich gegebenenfalls über rechtlich bindende Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinwegzusetzen:

„Aber die einzige Möglichkeit, die Boote ganz zu stoppen, besteht darin, den Anreiz zur Einreise zu beseitigen, indem man klarstellt, dass man nicht bleiben darf, wenn man illegal hierher kommt. Nur dann werden die Boote aufhören zu kommen und die Menschen werden aufhören, im Ärmelkanal zu sterben.Wir werden:

  • Eine Abschreckung aufbauen. Wir werden einen unerbittlichen, kontinuierlichen Prozess der permanenten Abschiebung illegaler Migranten nach Ruanda mit einem regelmäßigen Rhythmus von Flügen jeden Monat, beginnend im Juli, durchführen, bis die Boote gestoppt sind. Wenn wir gezwungen sind, zwischen unserer Sicherheit und der Rechtsprechung eines ausländischen Gerichts, einschließlich des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, zu wählen, werden wir immer unsere Sicherheit wählen.“
Conservative Party, Wahlprogramm, Juni 2024.

Nichts davon skizziert jedoch ein neues Vorhaben im Fall eines konservativen Wahlsieges. Vielmehr wiederholt das Programm bekannte Forderungen wie etwa das Unterbinden von Klagen betroffener Menschen, den Einsatz polizeilicher und nachrichtendienstlicher Ressourcen gegen die Lieferketten der Schlauchboote oder Visabeschränkungen für Staaten, die in migrationspolitischen Angelegenheiten nicht mit Großbritannien zusammenarbeiten. Vage ist von einem „internationalen Gipfel“ die Rede, um „die internationalen Gesetze für das Zeitalter der Massenmigration fit zu machen.“

Das wichtigste migrationspolitische Vorhaben neben dem Ruanda-Deal ist vielmehr die Einführung einer jährlich durch das Parlament festzulegenden Obergrenze für Migration. Doch auch diese Forderung wurde bereits in der Entstehungsphase des Ruanda-Plans ausformuliert. Es scheint, als sei das rechtskonservative Agendasetting in Großbritannien zumindest vorläufig an ein Ende gelangt.

Labour: Neue Behörde und Anti-Terror-Methoden

Die Labour Party gilt als voraussichtliche Siegerin der Wahl, ihr Spitzenkandidat Keir Starmer als wahrscheinlicher Nachfolger Sunaks. Ein ausgearbeitetes Wahlprogramm der Partei ist für den 13. Juni angekündigt, allerdings veröffentlichte sie bereits am 10. Mai das Positionspapier How we’ll create a fair system and stop the small boat crossings.

Die Partei verzichtet aus guten Gründen auf den Migrationsdeal mit Ruanda. Sie rechnet vor, dass dieser „zwei Millionen Pfund pro abgeschobener Person kosten [wird] – mehr als eine halbe Milliarde Pfund für nur 300 Personen, während letztes Jahr über 30.000 Menschen in kleinen Booten ankamen. Das bedeutet, dass dieser Plan weniger als ein Prozent der Ankommenden abdecken wird. Die Konservativen haben immer noch keinen Plan für die anderen 99 %, und in den zwei Jahren seit der Ankündigung der Ruanda-Politik ist noch niemand abgeschoben worden.“

Dem gegenüber reklamiert die Partei, sie habe „einen Plan, der funktioniert.“ Als Kernelemente nennt sie eine „starke Grenzsicherheit“ und die Schaffung eines effektiven Asylsystems, „das Menschen zurückschickt, die kein Recht haben, hier zu sein.“ Dies betont die repressive Ausprägung von Migrationspolitik. Konkret benannt werden fünf Maßnahmen, von denen sich zwei auf die britisch-französische Grenzpolitik beziehen:

„1) Hartes Durchgreifen gegen kriminelle Schleuserbanden, die die Überfahrt mit kleinen Booten ermöglichen, durch eine neue Grenzüberschreitende Polizeieinheit (Cross-Border Police Unit) und eine engere Sicherheitszusammenarbeit mit Europa, um Informationen in Echtzeit zu erhalten. […]

4) Neue Abkommen mit Frankreich und anderen Ländern über Rückführung und Familienzusammenführung. […]“

Labour Party: How we’ll create a fair system and stop the small boat crossings, Mai 2024.

Diese Vorhaben sind nicht neu. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden ist seit Langem Gegenstand der regelmäßig fortgeschriebenen Vereinbarungen mit Frankreich (siehe hier, hier, hier). Großbritannien blieb nach dem Brexit außerdem in gesamteuropäische Strukturen zur Bekämpfung schwerer und organisierter Kriminalität einbezogen, zu der auch kommerzielle Schleusungen gezählt werden, hat diese Möglichkeit aber wenig genutzt (siehe hier). Abkommen mit Frankreich zur Rücknahme abgewiesener Personen waren bereits das Ziel der konservativen Regierungen Johnson bis Sunak, allerdings scheiterten sie bislang aus politischen und rechtlichen Gründen. Damit wird deutlich, dass sich Labour auf den historisch gewachsenen Kern des Grenzregimes konzentriert, diesen aber aufwerten und stärken möchte.

Die durch das Ende des Ruanda-Plans frei werdenden Ressourcen sollen daher in diesen Bereich fließen. Hierfür schlägt Labour eine neue Behörde vor:

„Die Labour Party wird ein neues Border Security Command mit Hunderten von neuen Spezialermittlern und Anti-Terror-Befugnissen (anti-terror powers) einrichten, um kriminelle Banden zu zerschlagen und unsere Grenzen zu verstärken.

Dies wird Folgendes beinhalten:

  • Schaffung eines neuen Border Security Commander – eines ehemaligen Polizei-, Militär- oder Geheimdienstchefs –, der direkt dem Innenminister unterstellt ist. Das neue Kommando wird die Arbeit der wichtigsten Nachrichtendienste und Vollzugsbehörden leiten, um eine starke, geschützte Grenze zu gewährleisten.
  • Einstellung von Hunderten zusätzlicher spezialisierter Ermittler, Nachrichtendienstler und grenzüberschreitender Polizeibeamter, die das Border Security Command unterstützen und im gesamten Vereinigten Königreich und in Europa arbeiten werden, aufgeteilt auf mehrere Behörden, einschließlich der National Crime Agency, des MI5, der Border Force, des CPS International und der Einwanderungsbehörde.“
Labour Party: How we’ll create a fair system and stop the small boat crossings, Mai 2024.

Die Schaffung dieser Behörde ist der zentrale Vorschlag des Labour-Papiers. Allerdings dürfte das Border Security Command durch das Anfang 2023 von Sunak ins Leben gerufenen Small Boats Operational Command inspiriert sein, das mit einer angestrebten Personalstärke von 830 Bediensteten zunächst noch eine längere Aufbauphase zu durchlaufen hatte (siehe hier) und für das auch momentan noch Personal gesucht wird. Neben einem weiteren Personaleinsatz hebt Labour die Einbindung der Nachrichtendienste hervor und kündigt den Einsatz von Methoden und Taktiken an, die der Terrorismusbekämpfung entstammen: Ziel sei die „Zerschlagung der kriminellen Banden durch den Einsatz von Taktiken im Stil der Terrorismusbekämpfung, wobei die ganze Kraft der britischen Geheimdienste und der Polizei eingesetzt wird, um das üble Geschäftsmodell des Menschenhandels zu zerstören.“

Dieser Fokus auf anti-terror powers ist neu, und er ist ausgesprochen problematisch. Anti-Terror-Methoden greifen sehr viel schwerer in Grund- und Freiheitsrechte ein als andere Formen der Strafverfolgung, zumal dann, wenn sie mit nachrichtendienstlichen Mitteln einhergehen. Sie tendieren, eben weil terroristische Gewalt die gesellschaftliche Ordnung als Ganze angreift und dabei oft ausgesprochen brutal vorgeht, zu einem Handeln im Ausnahmemodus. Dies mag gegen reale terroristische Akteur_innen legitim sein, wird hier jedoch auf kommerzielle Kriminalität (Schleusungen) ausgeweitet und als migrationspolitische Option vorgeschlagen.

Dabei bleibt völlig offen, wie weit die Anwendung solcher Methoden und Taktiken reichen soll und ob beispielsweise gewährleistet sein wird, dass sie nicht auch Exilierte, zivilgesellschaftliche Initiativen oder politische Aktivist_innen betreffen werden. Nicht minder problematisch ist es, Migration in der politischen Kommunikation mit Terrorismus zu verknüpfen und Migrationspolitik als eine Politik des Aufnahmezustandes zu betreiben. Beides könnte einem möglichen rechtsextremen Premierminister auf der französischen Seite des Kanals ungewollt in die Hände spielen.

LibDems: Deradikalisierung und Legalisierung

Deutlich progressiver liest sich das am 10. Juni veröffentlichte Wahlprogramm der Liberal Democrats. Darin erklärt die kleine, aber als möglicher Koalitionspartner nicht unwichtige, Partei:

Wir werden:

  • das hostile environment der Konservativen beenden und stattdessen in Beamte, Ausbildung und Technologie investieren, um Schmuggel, Menschenhandel und moderne Sklaverei zu bekämpfen. […]
  • das Gesetzes der Konservativen über Illegale Einwanderung und ihre Ruanda-Programm abschaffen, die Flüchtlingskonvention einhalten und sichere und legale Wege für Flüchtlinge bereitstellen, um die gefährliche Überfahrt über den Ärmelkanal zu verhindern. […]
  • eng mit Europol und den französischen Behörden zusammenarbeiten, um die Schmuggler- und Scheuserbanden zu stoppen, die hinter den gefährlichen Kanalüberquerungen stecken.
Liberal Democrats, Wahlprogramm, Juni 2024.

Ähnlich wie Labour, konzentrieren sicg die LibDems hier einerseits auf den polizeilichen Kern des Grenzregimes und die bereits bestehende Zusammenarbeit mit französischen und europäischen Behörden.

Viel wichtiger jedoch sind die beiden erstgenannten Punkte, denn sie zielen auf einen migrationspolitischen Paradigmenwechsel. Dieser umfasst nicht nur den Verzicht auf den Ruanda-Plan, sondern ebenfalls den Illegal Migration Act und die hostile environment-Doktrin. War der Illegal Migration Act zur Umsetzung des Ruanda-Deals geschaffenen worden, ohne bislang vollständig angewendet zu werden, so bezeichnet hostile environment ein schon älteres Bündel gesetzlicher und administrativer Maßnahmen, das die Lebenswelt irregulär eingereister Menschen in Großbritannien möglichst abschreckend macht. Im weiteren Sinne kann auch das Vorgehen der französischen Behörden gegen die küstennahen Camps als Variante der britischen hostile environment verstanden werden.

Im Mittelpunkt des liberaldemokratischen Programms steht die Schaffung sicherer und legaler Wege für die Einreise nach Großbritannien einschließlich neuer Möglichkeiten für die Familienzusammenführung:

„Bereitstellung sicherer und legaler Wege zur Aufnahme von Flüchtlingen durch:

  • Ausweitung und angemessene Finanzierung des britischen Resettlement-Programms.
  • Schaffung neuer humanitärer Reisegenehmigungen, die es Asylbewerbern ermöglichen, sicher nach Großbritannien zu reisen, um ihren Antrag zu bearbeiten.
  • Einrichtung eines neuen Programms zum Resettlement unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge aus anderen europäischen Ländern.
  • Zusammenführung unbegleiteter asylsuchender Kinder in Europa mit Familienmitgliedern im Vereinigten Königreich.
  • Ausweitung der Familienzusammenführung von Flüchtlingen, einschließlich der Möglichkeit für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Vereinigten Königreich, enge Familienangehörige nachkommen zu lassen. […]
  • Asyl für Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identifikation vor Gewalt fliehen, Beendigung der Kultur des Misstrauens gegenüber LGBT+-Asylbewerbern und keine Ablehnung von LGBT+-Bewerbern mit der Begründung, sie könnten diskret sein. […]
Liberal Democrats, Wahlprogramm, Juni 2024.

Die Schaffung legaler und sicherer Einreisewege ist mit Blick auf die katastrophale Lage der Geflüchteten in Nordfrankreich elementar, da die Menschen trotz häufig guter Voraussetzungen für einen Schutzstatus und trotz familiärer Bindungen in der Regel keine Alternative zur „illegalen“ Grenzpassage haben. Ein Einreisepapier, das die Asylantragstellung in Großbritannein ermöglicht, könnte die humanitäre Krise in Nordfrankreich abmildern, Todesfälle verhindern und die Nachfrage nach kommerzielle Schleusungen verringern. Allerdings lassen die LibDems offen, wer ein solches Papier unter welchen Umständen erhalten würde. Sichere und legale Routen werden eher als selektive Instrumente für bestimmte Personengruppen vorgestellt, die nicht notwendigerweise mit den Menschen in den nordfranzösischen Camps identisch sind.

Fazit

Den drei Parteien ist gemeinsam, dass sie die Zusammenarbeit der Polizei- und Strafverfolgungsbehörden gegen kommerzielle Schleusungen fortführen wollen, dabei teils die Rolle der Nachrichtendienste betonen und im Fall von Labour sogar auf Anti-Terror-Methoden zurückgreifen wollen. Der konservative Ruanda-Plan wird mit Ausnahme der Tories als Irrweg erkannt. Die von den Liberaldemokraten vorschlagene Deradikalisierung der Grenzpolitik würde neue politische Spielräume eröffnen, sollte die Partei als Koalitionspartner in Frage kommen.

Ein Regierungswechsel in London kann die Lage der Exilierten in Nordfrankreich also in einem sehr allgemeinen Sinne verbessern, indem er die Geltung rechtlicher Normen sichert und die Angst vor einer Abschiebung nach Ruanda nimmt. Im besten denkbaren Fall könnten für einen Teil der Menschen legale und sichere Einreisewege entstehen. Gleichwohl durchbricht keine der Parteien die Logik externalisierter britischer Migrationsbekämpfung auf französischem Gebiet, ohne die sich historisch weder Camps und Bootspassagen, noch der hochprofitable Markt für Schleusungen hätte entwickeln können.

Völlig offen bleibt hingegen, ob Frankreich eine liberale Demokratie bleiben wird oder nicht und welche Konsequenzen sich aus der denkbaren Katastrophe ergeben würden. Dies relativiert die Aussagen der Parteiprogramme entscheidend, denn es macht die Konfliktfelder, Kooperationen und Wechselwirkungen zwischen London und Paris unkalkulierbar.