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Channel crossings & UK

Erneut eine tödliche Havarie

„Diese Grenze tötet in größter Stille“ – Mit diesen Worten kommentierte die Calaiser NGO L’Auberge des migrants den jüngsten Todesfall auf See: Am 11. August 2024 starben erneut zwei Menschen während einer Bootspassage nach Großbritannien. Es ist der 32. Todesfall im Kontext der klandestinen Migration aus der EU nach Großbritannien in diesem Jahr. Zugleich mehren sich Anzeichen dafür, das Großbritannien auf See gerettete Personen zurückweist und an Frankreich übergibt.

Die für den Ärmelkanal zuständige Seepräfektur (Préfecture maritime Manche et mer du Nord, kurz: Premar) teilte heute mit, die regionale Leitstelle CROSS Gris-Nez habe am frühen Morgen des 11. August einen Notruf von einem Schlauchboot erhalten. Die Leitstelle habe den in Le Touquet stationierten Marinehubschrauber Dauphin mit der Lokalisierung des Bootes beauftragt. Offenbar hatte die Besatzung wegen Nebel zunächst Schwierigkeiten, das Boot zu finden, doch gelang es ihr schließlich und sie stellte fest, dass sich Personen im Wasser befanden. Eine leblose Person sei an Bord des Hubschaubers gehievt und ins Krankenhaus von Boulogne-sur-Mer gebracht wurde. Dort sei sie für tot erklärt worden.

Die Leitstelle habe das vom französischen Staat gecharterte Rettungsschiff Minck, das zivile Rettungsschiff Notre Dame de Risban, das Patrouillenboot Cormoran der Marine sowie ein medizinisches Notfallteam an die Unglückstelle beordert. Außerdem habe das britische Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) in Dover den Einsatz durch ein Schiff der Border Force unterstützt.

Die Besatzung der Notre Dame de Risban habe vier Personen geborgen, „darunter eine leblose Person“, und brachte sie in den Hafen von Calais. „Trotz der von den Rettungssanitätern durchgeführten Maßnahmen konnte die bewusstlose Person nicht wiederbelebt werden“, so Premar.

Parallel dazu hätten die Minck 35 Schiffbrüchige und das Schiff der britischen Küstenwache 14 Personen an Bord genommen. Diese 14 Personen seien dann dem französischen Schiff Cormoran übergeben und gemeinsam mit den übrigen Geretten in Calais an Land gebracht worden. Danach sei die Suchaktion weitergegangen, ohne dass weitere Schiffbrüchige entdeckt wurden. Insgesamt seien 54 Menschen lebend geborgen worden. Sowohl vor, als auch nach diesen Geschehnissen hätten weitere Rettungseinsätze stattgefunden.

Die Erklärung der Seepräfektur enthält, wie in den vorausgegangenen Fällen, keine Angaben über den Ort der Havarie, die vermutete Ablegestelle des Bootes, den genauen zeitlichen Ablauf sowie die Identität der beiden Toten. Aus der Präsenz des britischen Schiffs lässt sich jedoch folgern, dass das Boot auf hoher See havarierte, vermutlich in der Nähe der Seegrenze.

Bemerkenswert ist der Hinweis von Premar zur Übergabe der 14 von der britischen Border Force geborgenen Personen an die französischen Behörden. Von einem solchen Vorgehen war bereits bei einem Rettungseinsatz in der Nacht vom 17. zum 18. Juli 2024 berichtet worden (siehe hier). „Zum ersten Mal hat ein britisches Schiff, das an einer gemeinsamen Rettungsaktion im Ärmelkanal teilnahm, Schiffbrüchige in einem französischen Hafen an Land gebracht,“ analysierte InfoMigrants damals. Eine Sprecherin von Premar begründete das damalige Vorgehen mit dem Prinzip, bei Rettungseinsätzen den nächsten sicheren Hafen anzulaufen, bestätigte aber zugleich, dass dies bis dahin noch nie geschehen sei. Als britische Boulevardmedien den Vorfall unter Berufung auf interne Quellen als Beginn einer stärkeren Zusammenarbeit beider Staaten bei Zurückweisungen auf See deuteten, dementierten beide Seiten zwar eine solche politische Dimension. InfoMigrants kam jedoch zu der Einschätzung: „Diese neue Praxis […] könnte sich zu einem Zeitpunkt wiederholen, an dem die beiden Länder die Diskussion über einen neuen Rahmen für die Zusammenarbeit eröffnen.“ Ob sich eine solche Entwicklung abzeichnet, bleibt abzuwarten.

[Update, 12. August: Am Tag der Havarie fanden ungewöhnlich viele Bootspassagen statt. Die britischen Behörden erfassten 703 Personen auf 11 Booten, die von der Border Force und ser zivilen Seenotrettung in Dover an Land gebracht wurden. Die französischen Behörden bargen einschließlich der Überlebenden der Havarie 105 Menschen.]

Ein wesentlicher Grund für die zahlreichen Todesfälle in diesem Jahr ist die auf über 50 im Durchschnitt gestiegenen Personenzahl pro Boot. Im aktuellen Fall waren 56 Menschen an Bord gewesen. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, die Verantwortung allein den Schleusern zuzuschreiben. Ein indirekter Grund ist die Verknappung der verfügbaren Boote durch Strafverfolgungsmaßnahmen entlang der Lieferketten. Ein ganz wesentlicher Faktor sind überhastete Ablegemanöver infolge einer 2023 massiv verstärkten Polizeipräsenz an den nordfranzösischen Stränden. Das wiederholt dokumentierte gewaltsame Vorgehen gegen ablegende Boote verstärkt die Risiken zusätzlich.

Seit Jahresbeginn starben im Zusammenhang mit der klandestinen Migration aus der EU nach Großbritannien nach unserer Zählung 32 Personen, davon 22 oder 23 beim Ablegen eines Bootes oder auf hoher See:

14. Januar: Tod von fünf Personen bei einem Ablegemanöver bei Wimereux; 27. Januar: Tod einer Person in einem Lastwagen in Calais; 4. Februar: Tod einer Person durch ein Tötungsdelikt in Loon-Plage; 8. Februar: Tod einer Person in Paris bei der versuchten Grenzpassage mit einem Schnellzug; 28. Februar: Tod einer Person auf dem Ärmelkanal; 3. März: Tod von zwei Personen bei zwei verschiedenen Ablegemanövern an Wasserstraßen im Hinterland der Küste; 1. April: Tod einer Person durch ein Tötungsdelikt in Loon-Plage; 4. April: Tod einer Person auf der belgischen Küstenautobahn; 8. April: Tod einer Person auf einer Autobahn bei Namur (Belgien); 18. April: Tod einer Person auf der Autobahn bei Dunkerque; 23. April: Tod von fünf Personen bei einem Ablegemanöver bei Wimereux; 4. Mai: Tod einer Person durch Ertrinken in einer Wasserstraße bei Dunkerque; 12. Juli: Tod von vier Personen auf dem Ärmelkanal; 17. Juli: Tod einer Person auf dem Ärmelkanal; 19. Juli: Tod einer Person auf dem Ärmelkanal; 28. Juli: Tod einer Person auf dem Ärmelkanal; 29. Juli: Tod eines kranken Säuglings in Calais; 2. August: Tod einer Person wahrscheinlich durch Suizid in Calais; 11. August: Tod von zwei Personen auf dem Ärmelkanal.

Zum Vergleich: Im selben Zeiraum des Jahres 2023 (1. Januar bis 11. August) starben vier Personen. Keiner dieser Todesfälle ereignete sich auf See oder beim Ablegen. Am 12. August 2023 folgte dann die erste tödliche Havarie des Jahres mit sechs Todesopfern. Sie leitete die bis heute anhaltende Phase ein, in der monatlich und zuletzt wöchentlich Todesfälle gemeldet werden. Im selben Zeitraum des Jahres 2022 starben 13 Menschen, davon einer bei einer Bootspassage. In beiden Jahren häuften sich Todesfälle bei Bootspassagen erst im Spätsommer und Herbst.

Diese Daten zeigen, in welchem Maße die Zahl der Todesfälle bei Bootspassagen in 2024 in die Höhe geschossen ist, obwohl die Zahl der Passagen selbst in diesem Sommer nur geringfügig über dem Wert des Vorjahres liegt. 2024 dürfte eines der katastrophalsten Jahre in der Geschichte der klandestinen Migration nach Großbritannien werden.