An drei Wasserwegen im nordfranzösischen Küstengebiet entstanden seit 2021 schwimmende Barrieren. Sie sollen verhindern, dass sogenannte Taxiboote im Hinterland der Küste zu Wasser gelassen werden, die ihre Passagier_innen später an einer verabredeten Stelle an Bord nehmen. Die Behörden gaben nun ihren Plan auf, in einem hierfür häufig genutzten Wasserlauf zwischen Calais und Dunkerque eine vierte Barriere zu errichten.
Schlagwort: Grenzregime
Nach einer Schlechtwetterphase, in der kaum Schlauchboote übersetzten, war der 5. Oktober 2024 der Tag mit den meisten Bootspassagen seit Jahresbeginn. Am diesem Tag kam es zu zwei weiteren tödlichen Ereignissen. Dabei starben vier Menschen, unter ihnen ein Kind im Alter von zwei Jahren. Mit ihrem Tod setzt sich die fatale Dynamik der Vormonate fort. Seit Jahresbeginn starben 57 Menschen bei dem Versuch, Großbritannien zu erreichen. Mit dem Beginn der kalten Jahreszeit steigt ihre Zahl noch stärker an.[Updated, 6. Oktober 2024]
Seit Jahrsbeginn haben über 25.000 Menschen den Ärmelkanal in small boats überquert. Das Jahr 2024 dürfte, sollte sich die Entwicklung fortsetzen, bei einem leichten Anstieg gegenüber 2023 das Jahr mit den zweitmeisten Bootspassagen werden. Insgesamt zeichnet sich ein Einpendeln der jährlichen Channel crossings bei annähernd 30.000 Personen ab. Gleichzeitig häufen sich Berichte über dramatische und gewalttätige Situationen; in immer kürzeren Abständen sterben immer mehr Menschen, weitere sind auf See verschollen. Die Kanalroute hat sich von der vergleichsweise sicheren maritimen Passage in der Zeit um 2020 (siehe hier) zu einer der riskantesten Migrationsrouten innerhalb Europas entwickelt. Dies wird so bleiben, denn es hat strukturelle Ursachen.
Das Border Security Command und die Re-Europäisierung der britischen Migrationspolitik
Am Tag ihres Amtsantritts, dem 5. Juli 2024, beendete die Labour-Regierung den Plan ihrer Vorgängerregierung, Geflüchtete nach der Überquerung des Ärmelkanals nach Ruanda zu verbringen. Auch der Illegal Migration Act, das gesetzgeberische Kernstück dieser Politik, wurde damit hinfällig. Aus den eingesparten Mitteln wird nun eine neue Institution geschaffen, um Polizei, Strafverfolgung und Nachrichtendienste zu bündeln: Das Border Security Command (BSC). Zugleich will die Regierung Starmer Antiterror-Methoden gegen Schleusungskriminalität anwenden und wieder stärker auf die europäische Zusammenarbeit setzen – voraussichtlich mit fatalen indirekten Folgen für die Exilierten auf der Kanalroute.
Verstärkte Küstenüberwachung im Sommer
Wie bereits in den Vorjahren, verstärkten die französischen Behörden für die bevorstehenden Sommermonate die Küstenüberwachung. Die Zeitung La voix du Nord meldet allein knapp 800 zusätzliche Polizei- und Gendarmeriekräften für das Departement Pas-de-Calais. Die Maßnahme dürfte die Risiken beim Ablegen der Boote weiter erhöhen, während die Zahl der Bootspassagen im ersten Halbjahr dieses Jahres so hoch liegt wie noch nie.
„Wir wären fast gestorben“
Sollte jemand der Illusion angehangen haben, nur im Süden und Osten der EU griffen Grenzschützer*innen zu Maßnahmen, die Geflüchtete gefährden und gegen Menschenrechte verstoßen – die Lighthouse Reports-Publikation „Sink the boats“ räumt damit gründlich auf. Videos und Dokumente vom Ärmelkanal belasten die französische Polizei schwer.
Im Januar 2024 passierten mehr Exilierte den Ärmelkanal in Schlauchbooten wie in den Vergleichsmonaten der Vorjahre. Die britischen Behörden registrierten bis zum 31. Januar insgesamt 1.335 Ankünfte per Boot. Zum Vergleich: In den Vorjahren waren 1.180 (Januar 2023), 224 (Januar 2022) bzw. 94 (Januar 2021) Menschen auf diese Weise nach Großbritannien gelangt. Gleichzeitig starben noch nie in einem Januar so viele Menschen bei einer versuchten Passage wie in diesem Jahr. Die Entwicklung spiegelt eine erhöhte Risikolage, die indirekt aus der verstärkten Küstenüberwachung resultiert.
Teil 1: Calais Group
Das britische Grenzregime basiert auf bi- und multilateralen Abkommen mit Frankreich und weiteren Anrainerstaaten von Ärmelkanal und Nordsee. Hinzu kommen geografisch entfernte Staaten, denen bestimmte Funktionen bei der Vorfeldbekämpfung der Migration (Türkei) oder der Aufnahme abgewiesener Migrant_innen (Ruanda) zufallen sollen. Mit der EU besteht bislang keine migrationspolitische Rahmenvereinbarung, was aber nicht bedeutet, dass europäische Grenz-, Polizei- und Justizbehörden nicht auf anderer Ebene eingebunden wären. Auch Deutschland ist Teil dieser Strukturen. Aber worin genau besteht der deutsche Anteil am britischen Grenregime? Wir möchten dieser Frage in einer lockeren Folge von Beiträgen nachgehen. Am Anfang steht die Calais Group, ein 2021 geschaffener Rahmen für bereits bestehende und wohl auch für künftige Vorhaben.
Im Sommer 2021 wurde auf dem Canal des Dunes bei Dunkerque eine schwimmende Barriere angelegt, um die Durchfahrt von Schlauchbooten durch den dortigen Fährhafen zum Ärmelkanal zu verhindern. Auf dem Fluss Canche in der Normandie besteht seit dem 10. August 2023 eine weitere schwimmende Barriere. Die Behörden des Departements Pas-de-Calais reagieren damit offenbar auf veränderte Techniken der Bootspassagen.
Zur britisch-türkischen Zusammenarbeit bei der Vorfeld-Bekämpfung der Bootspassagen
Die Regierungen Großbritanniens und der Türkei veröffentlichten am 9. August 2023 eine gemeinsame Erklärung zum Aufbau eines „Kompetenzzentrum“ für die Bekämpfung von Schleusernetzwerken und zur Unterbrechung der Lieferketten für Boote und Bootsequipment. Kurz vorher war bekannt geworden, dass Großbritannien bereits jetzt türkische Grenztruppen unterstützt und Informationen über Geflüchtete, die den Ärmelkanal passiert haben, an diese weiterleitet. Diese Entwicklung ist Teil einer Internationalisierung der britischen Grenzpolitik nach dem Ausscheiden aus der EU. Sie dokumentiert zudem die Bereitschaft, auch mit hochproblematischen Partnern zu kooperieren.