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Calais Channel crossings & UK Corona

„Es ist verrückt, es ist unmenschlich, es funktioniert nicht, aber es wird so weitergehen“

Deutsche Fassung

Maya Konforti von L‘Auberge des Migrants ist in Calais und Grande-Synthe seit 2014 aktiv. In diesem Interview reflektiert sie die jüngste Entwicklung und analysiert den aktuellen Stand der Evakuierungen, des Confinement (französische Corona-Schutzmaßnahmen), der Polizeigewalt und der Bootspassagen. Wir veröffentlichen den inhaltlich sehr dichten Text auf diesem Blog als Longread-Format.

Was sind momentan die Orte, an denen sich in der Region Camps befinden, und wie viele Menschen leben dort?

Diese Camps sollten nicht so sehr als Camps, denn als „Überlebensorte“ bezeichnet werden; sie befinden sich meist in Calais und Grande-Synthe. In Calais gibt es etwa fünf Plätze. Die Zone Industrielle des dunes [Gewerbegebiet am östlichen Rand von Calais, d. Übers.] ist der am stärksten bevölkerte. In Grande-Synthe sind es zwei oder drei Plätze. In der Zone Industrielle des dunes sind im Augenblick etwa 800 bis 900 Leute [Das Interview entstand Anfang Mai, d. Übers.]. Alles in allem zählten wir vergangene Woche 1100 Leute in Calais. Und das war, nachdem ungefähr 200 Leute ins Confinement weggegangen war. In Grande-Synthe sind es etwa 400, 500 Leute. Die Zahlen dort sind ein bisschen gesunken, weil viele es nach Großbritannien geschafft haben.

Was sind die Herkunftsländer der Leute, und kommen immer noch neue an?

Momentan kommen nur zwei oder drei Züge am Tag in Calais an. Aber wir sehen immer noch Neuankünfte. Zu den Nationalitäten: In Calais sind mehr Sudanesen als im Vorjahr, und nach wie vor einige Iraner_innen, Eritreer_innen und Äthiopier_innen, dazu einige aus Mali oder Mauretanien, die es nicht geschafft haben, in Frankreich Asyl zu bekommen. Und Afghanen, aber weniger als früher. In Grande-Synthe gibt es eine große Mehrheit kurdischer Leute aus dem Irak und eine kleine Gruppe pakistanischer Leute.

Was ist mit Frauen, Minderjährigen oder Familien?

Es gibt nur sehr wenige Familien in Calais, und einige alleinstehende Frauen, manchmal mit einem kleinen Kind. Und natürlich sind viele Familien unter den Kurd_innen in Grande-Synthe, ungefähr 30. Zu den Minderjährigen: Zuletzt wurden etwa 60 in Calais und bis zu 150 in Grande-Synthe gezählt.

Worin unterscheidet sich die Situation in Calais von der in Grande-Synthe?

Sie sind ziemlich unterschiedlich, sowohl hinsichtlich der Nationalitäten als auch der Anzahl. Die Zahlen schwanken übrigens. Manchmal sind mehr Leute in Grande-Synthe als in Calais. Ein weiterer Unterschied ist die Art, wie die lokale Verwaltung agiert. In Calais wurde der Regierung [gerichtlich, d. Übers.] im Frühjahr 2017 angeordnet, Duschen und Toiletten bereitzustellen und Zugang zu Wasser zu gewähren, also machen sie das immer noch. Ebenso geben sie Lebensmittel aus, allerdings stoppten sie zu Beginn des Confinement die Ausgabe warmer Mahlzeiten. Aber sie geben immer noch ein Frühstück und mittags ein Sandwich aus, was die Regierung in Grande-Synthe nie getan hat. In Grande-Synthe war es die Stadt, die einige Toiletten aufgestellt und, ich glaube, auch Zugang zu Wasser vielleicht noch ein paar Duschen bereitgestellt hat, aber das hat die Stadt gemacht und nicht die Präfektur. Noch ein Unterschied: Die Wahl, ins Confinement zu gehen, war in Calais komplett freiwillig, während die Leuten in Grande-Synthe aufgefordert wurden, in die Busse zu gehen und dann alle ihre Sachen zerstört wurden, sobald sie in die Busse gestiegen waren.

Was ist im Moment die Strategie der lokalen und staatlichen Behörden? Und wie gehen die Migrant_innen und ihre Unterstützer_innen damit um?

Die lokalen Behörden verhalten sich überhaupt nicht anders als in den letzten beiden Jahren. Im Wesentlichen heißt das sogenannte Evakuierungen mindestens alle 48 Stunden in jedem einzelnen Camp in Calais. Das erzeugt schon eine Menge Spannungen zwischen den Geflüchteten, denn es macht sie so gereizt, alle 48 Stunden wegzumüssen, nur für ein paar Stunden, und danach können sie ihr Zelt wieder zurückstellen, aber viele persönliche Sachen verschwinden jedes Mal bei einer solchen Evakuierung. Daher sind die Geflüchteten ziemlich angespannt in diesen Tagen. Und die Freiwilligen funktionieren mit stark reduzierter Kapazität. Vor allem hat Refugee Community Kitchen bis zum Ende des Confinement die Küche geschlossen, sodass sie keine warmen Mahlzeiten mehr ausgeben, und wir haben ungefähr 20 Freiwillige im Warehouse, die damit begonnen haben, Zutaten fürs Kochen zu verteilen. Das bedeutet eine Reduzierung unserer Aktivitäten, klar.

Was hat der Ausbruch des Virus mit den Migrant_innen gemacht?

Die Regierung hat den Geflüchteten angeboten bzw. sie ermutigt, ins Confinement zu gehen, aber es hat nicht besonders gut funktioniert. Zunächst einmal, weil sie sagten, dass in Calais 650 Leute wären, während es ungefähr 1100 waren. Zu Beginn hatten sie ein Maximum von 450 Plätzen zur Verfügung. 380 Leute gingen auf freiwilliger Grundlage ins Confinement, aber über hundert haben die Confinement-Plätze wieder verlassen, weil sie sie aus dem einen oder anderen Grund nicht gut fanden. Damit sind also nur etwa 200 von diesen 1100 Leuten wirklich ins Confinement gegangen. Vielleicht weil sie eine Ruhepause wollten, aber die Sache ist: hier war sehr gutes Wettet in den letzten Wochen, daher haben viele der Geflüchteten es mit dem Boot oder dem Lastwagen nach Großbritannien geschafft, ziemlich viele per Boot. Dies ist ihre Priorität. Sie machen sich wegen vieler Dinge Sorgen und das Virus ist nur eines davon, es macht ihnen nicht wirklich Angst. Und dann ist es für sie so, dass sie, auch wenn sie im Zelt und meistens mit jemandem zusammen leben, ja draußen sind. Manche von ihnen sagen, dass sie sich draußen sicherer vor dem Virus fühlen, als wenn sie ins Confinement gingen, wo man sie in einen Raum mit vier oder fünf anderen Leuten steckt und sie dann doch dicht beieinander sind. Einige Leute sind deswegen zurückgekommen. Sie sagen, sie verstünden nicht, warum es drinnen sicherer sein sollte als draußen. Außerdem fühlten sie sich zu weit weg von Calais, auch wenn die Confinement-Plätze auf das Departement Pas-de-Calais beschränkt sind. Aber es ist immer noch zu weit, um nachts in ein Boot oder in einen Laster zu steigen.

Wisst ihr mehr über die Bedingungen in diesen Unterkünften?

Sie sind alle im Pas-de-Calais. Eine von ihnen liegt nahe bei Boulogne, in einem Hotel, eine andere in Armentières bei Lille, in einem Internat. Es ist offensichtlich, dass diese Plätze den Geflüchteten nach dem Confinement und nach Wiedereröffnung der Schulen nicht mehr zur Verfügung gestellt werden können. Daher werden die Leute sie wahrscheinlich zum 11. Mai verlassen müssen, und in der Tat werden all diese Leute, die im Confinement geblieben sind, wahrscheinlich wieder auf die Straße gesetzt. Darüber hinaus gibt es eine Art Feriendorf, eine Sporthalle, und diese Plätze unterscheiden sich in ihrer Qualität voneinander. An einigen Plätzen sind vier, fünf Leute in einem Raum, an anderen zwei.

Gab es mehr Covid-19-Fälle als die fünf im April gemeldeten?

Nein, wie Médecins du Monde uns vor ein paar Tagen mitgeteilt hat. Tatsächlich sind, denke ich, offiziell wirklich nur zwei in Einrichtungen gegangen sind, um sich von Covid zu erholen. Die Check-Ups werden von Médecins du Monde und vom Roten Kreuz durchgeführt, die dreimal die Woche in die Zone Industrielle des dunes gehen. Sie gehen nicht in die anderen Camps, die sich in der Nähe des Krankenhauses befinden, sondern nur in dieses Hauptgebiet, wo sich die meisten Leute aufhalten. Sie reden mit den Leuten, überzeugen sich, dass sie über Social Distancing und das Virus Bescheid wissen, und wenn Leute sich nicht gut fühlen oder Fieber zu haben scheinen, dann schicken sie sie in eine Lagerhalle in der Zone Industrielle des dunes, wo Freiwillige einer Organisation namens Protection Civile sie gründlicher untersuchen und entscheiden, ob sie ins Krankenhaus gebracht werden sollen. Dort entscheiden sie, ob jemand Covid-19 zu haben scheint – ich sage scheint, denn niemand wir getestet. Wenn sie es zu haben scheinen und sich nicht gut fühlen, bringen sie sie in diese Erholungszentren, und wenn sie wirklich krank sind, bringt man sie ins Krankenhaus. Aber bisher war niemand krank genug, um ins Krankenhaus zu kommen.

Wie gehen die Migrant_innen mit dieser Situation um?

Sie sind nicht sehr beunruhigt wegen des Virus. Was sich geändert hat ist, dass sie keine warme Mahlzeit von Refugee Community Kitchen mehr bekommen, ebenso wenig von La vie active, die vom Staat beauftragte Organisation, was das Leben härter macht. Ein weiteres Problem ist, dass sie nicht mehr mit dem Bus zum Krankenhaus kommen, weil die Busgesellschaft und Fahrer wegen des Virus Befürchtungen über die Flüchtlinge zum Ausdruck gebracht haben. Das sind die durch das Virus verursachten Probleme.

Was bedeutet das in Bezug auf die Nahrungsknappheit, Mangelernährung und Stress?

Die Geflüchteten in Calais haben eine kurze Zeit hungern müssen, als die Refugee Community Kirchen nicht mehr arbeitete. Sie wussten, dass die Grenze zwischen Großbritannien und Frankreich geschlossen werden würde, und die Leute befürchteten nicht mehr nach Hause zu können, wenn sie krank würden. Darum haben sie diese Entscheidung getroffen. Und dann hörte zur gleichen Zeit noch La vie active auf, warme Mahlzeiten auszugeben. Damit hatten sie nur noch Brot und etwa Nahrung zum Frühstück sowie ein Sandwich und einen Joghurt zum Mittag. Deswegen haben uns für die Verteilung von Zutaten fürs Kochen entschieden. Wir verteilen inzwischen um die tausend Beutel in der Woche an die verschiedenen Camps in Calais. Wir verteilen dreimal wöchentlich. Daher gibt es kein Problem mehr mit Hunger, auch dank der Verteilung von Feuerholz durch The Woodyard. Eine andere Sache ist, dass die Gruppe, die normalerweise Kleider, Zelte und Schlafsäcke verteilt, zumindest im letzten Monat keine Kleider mehr verteilen konnte, weil es zu wenig Freiwillige waren. Die Flüchtlinge haben das schon verstanden, aber es ist klar, dass es ihr Leben nicht einfacher macht, wenn man die Kleider nicht wechseln kann. Solange das Wetter gut ist, können sie ihre Kleider waschen, aber wenn es regnet, wird‘s schwierig.

Wie haben sich die Routen, um nach Großbritannien zu kommen, in der letzten Zeit verändert?

Momentan, denke ich, gibt es keine Passagen durch den Eurotunnel. Er ist wie verrückt eingezäunt und mit Klingendraht umgeben. Also durch den Tunnel so gut wie nichts oder gar nichts. Mit Lastwagen haben sie, wie ich annehme, wahrscheinlich weiterhin Erfolg, aber wir haben darüber keine Zahlen. Ich denke, dass der Hauptweg zur Überquerung der Grenze heute tatsächlich per Boot ist. Als dies vor anderthalb Jahren begann, waren es hauptsächlich die Iraner_innen, sie machten es auf eigene Faust. Inzwischen wird es von den Schmugglern betrieben, sie sind gut organisiert und sie haben mit den Bootspassagen eine Menge Erfolg. Mehr als einer von zwei Versuchen ist erfolgreich, und das ist doch wirklich viel. Gerade ist es wieder windig, aber wir hatten einen Monat mit ungewöhnlich ruhigem Wasser, und das hat viele Passagen möglich gemacht. Wir hatten Zahlen von 150 in einer Woche, und in der nächsten Woche etwa hundert.

Und heute: Sind es nicht mehr nur die Iraner_innen, den Kanal mit dem Boot überqueren?

Nein, es sind nicht länger hauptsächlich Iraner_innen. Da sind viele kurdische Leute, einige Afghan_innen, auch einige Afrikaner_innen. Wer halt das Geld hat, um einen Schmuggler zu bezahlen, und ich glaube, sie zahlen normalerweise um die 3.000 Euro oder 3.000 Pfund pro Person. Es variiert, aber dies ist ein Durchschnittspreis. Und sie überqueren den Kanal von vielen verschiedenen Stellen aus, hauptsächlich irgendwo zwischen Dunkerque bis etwa Le Touquet. Dies sind ungefähr 75 Kilometer Strand mit nicht weniger als mindestens 12 Ablegestellen.

Machen die Bootspassagen es einfacher, nach Großbritannien zu gelangen, oder im Gegenteil schwieriger und gefährlicher?

Es ist definitiv ein guter Weg, den Kanal per Boot zu überqueren. Mehr als die Hälfte der Versuche verlaufen nach dem Ablegen erfolgreich, was wirklich eine sehr hoher Anteil ist. Und bisher wissen wir nur von vier Todesfällen in den letzten anderthalb Jahren. Ich denke, die größte Gefahr besteht darin, vor dem Erreichen der britischen Gewässer in Schwierigkeiten zu kommen und durch die französische Küstenwache zurückgebracht zu werden.

Wo legen die Boote ab? Gibt es verschiedene Routen über den Kanal?

Zwischen Calais und Boulogne sind es etwa 12 Plätze. Wenn die Leute von Dunkerque oder weiter südlich von Boulogne ablegen, ist die Passage viel länger, offensichtlich muss sie dann mit größeren Booten zurückgelegt werden. Wir haben noch nicht gehört, dass Leute an verschiedenen in Großbritannien ankommen. Aber es macht Sinn, das sie ständig versuchen, neue Wege zu finden. Eines Tages werden wir die Leute wahrscheinlich in der Bretagne ablegen seien.

Wie hat der Lockdown die humanitäre und solidarische Arbeit verändert?

Nun ja, in den Gebieten, wo sich die Geflüchteten aufhalten, gibt es nicht per se ein Confinement. Wenn 800 Leute auf ein paar Morgen Fläche leben, ist es echt schwierig; und unter den Bedingungen, wie sie leben, ist Social distancing ziemlich unmöglich. Die Zelte stehen alle direkt nebeneinander. Wenn La vie active Frühstück ausgibt, müssen die Leute einen oder anderthalb Meter Abstand zueinander halten. Dann gehen sie und essen ihr Frühstück nah bei ihren Freunden, also es ist ziemlich verrückt. Die Regierung versuchte den Zugang zu Trinkwasser zu erweitern. Wie beschwerten uns daraufhin über die Tatsache, dass es nicht genug Wasser gab, vor allem in den übrigen Camps außerhalb der Zone Industrielle de dunes, weil es in diesen Camps keinen Wasserhähne gab. Die Regierung kann daher nur Wasserbehälter bereitstellen, aber sie bringen nicht genug davon – Wie sich der Lockdown auf unsere Aktionen ausgewirkt hat? Nun, sie haben sich ausgewirkt, weil die Regierung zunächst dazu entschieden hat, die Namen von allen haben zu wollen, die rumfahren und Zelte, Schlafsätze oder Lebensmittel verteilten. Wir beschwerten uns darüber. Dann wollten sie die Kennzeichen der Fahrzeuge wissen und sagten, es könnten nicht mehr als zwei Leute in einem Van sein. Während dieser Zeit mussten wir die Zahl der Freiwilligen reduzieren. Eigentlich hatten wir Leute, die mit uns freiwillig arbeiten wollten, weil sie wegen des Confinement zuhause bleiben mussten, aber wir haben uns schwer getan sie zu akzeptieren, denn die Leute nach Calais kommen, müssen sie immer erst viel über die Situation lernen, die durch das Confinement jetzt noch komplizierter geworden ist. Also waren wir zurückhaltend, neue Freiwillige zu akzeptieren, auch weil die Gefahr bestand, dass sie infiziert werden. Daher haben wir nur solche Leute angenommen, die Calais bereits kannten, die vorher schon freiwillig gearbeitet hatten. Aber wenn das Confinement dem Ende zugeht, werden wir auf jeden Fall einige Leute kommen lassen, und sie werden willkommen sein.

Was glaubst du, wie sich die Situation entwickeln wird?

Auf kurze Sicht, so denke ich, werden die Leute, die ins Confinement gegangen sind, wieder zurück auf die Straße gesetzt. Je nach Wetterlage werden die Leute es weiter versuchen. Weder auf kurze noch auf lange Sicht erwarten wir, dass sich die Dinge ändern, leider. Wir suchen weiterhin nach Wegen, um die Räumungen stoppen. Diese sind verantwortlich für die momentanen Schwierigkeiten. Confinement plus Räumungen plus die schrecklichen Bedingungen, unter denen die Leute leben: das erzeugt enormen Stress. Aber bedauerlicherweise scheinen wir keinen rechtlichen Ansatzpunkt zu finden, um diese Räumungen zu stoppen.

Kannst Du uns mehr über diese ständigen Räumungen sagen?

Offiziell sind es keine Räumungen, sondern lediglich Aktionen, um die Geflüchteten alle 48 Stunden in Bewegung zu versetzen, damit sie keinen Anspruch auf den Platz erheben können. Wenn sie das könnten, so müsste die Regierung ein Gericht einschalten, um einen Räumungsbeschluss gegen die Leute zu erwirken. Es ist eine lächerliche Sache, die schon seit über zwei Jahren so geht, und es geschieht permanent, mindestens alle 48 Stunden, manchmal auch häufiger. Worum es einzig und allein geht: Keinen Punkt der Verfestigung! Sie wollen keinerlei Camp mehr wie den Jungle in den Jahren 2015 und 2016, und es ist komplett albern, denn es existiert ja! Also drängen wir die Leute einfach weg und fordern sie auf die Zelte zu bewegen. Sie nehmen deren Sachen weg und die Leute kommen an exakt denselben Platz zurück, und so machen sie es wieder, 48 Stunden später. Trotzdem sind Leute über Monate an exakt dem gleichen Platz geblieben, also ist es ein Punkt der Verfestigung. Calais ist ein Punkt der Verfestigung, und dies wird sich nicht ändern, und zwar wegen der geographischen Lage von Calais. Und daher: Was geschieht ist verrückt, es ist unmenschlich, es funktioniert nicht, aber es wird so weitergehen.

In politischer Hinsicht: welche Zielvorstellungen siehst du in der jetzigen Situation?

Wir kommen immer wieder auf diesen Punkt zurück: Die Leute wollen nach Großbritannien, und sie haben gute Gründe dafür. Und der einzige Weg für eine Verbesserung der Situation besteht darin, dass das britische Home Office in dem, was sie die britische Grenze nennen, ein Büro eröffnen würde. Das ist, aus britischer Sicht, in Calais. Also warum muss man immer noch hinüber nach Großbritannien, wenn man Asyl beantragen will? Zumindest all diejenigen, die Asyl beantragen können, wegen ihrer Fingerabdrücke usw., würden dann Asyl beantragen und müssten nicht unter den schrecklichen Bedingungen leben, wie sie es heute tun. Das wäre wirklich eine Lösung zumindest für einen guten Teil der Leute. Es würde auch weniger Geld kosten als Großbritannien momentan für Polizeikräfte, Drohnen, die Zäune und den Klingendraht ausgibt. Das meiste davon wird von Großbritannien bezahlt.

Außerdem gibt es da noch die Dublin-Verordnung, die keinerlei Sinne macht. Dieses ganze ‚Im ersten europäischen Land, in das man eingereist ist, Asyl beantragen zu müssen‘ ist völlig bescheuert, denn es sind immer dieselben Länder: Bulgarien, Griechenland, Italien und teilweise Ungarn, und diese Orte sind nach wie vor nicht gut, um Asyl zu beantragen. Ein Afghane beispielsweise, der in Frankreich eine 70- oder 80-prozentige und in Deutschland vielleicht eine 40-prozentige Chance auf Anerkennung hätte, hätte eine dreiprozentige Chance in Ungarn. Hinzu kommt: Selbst wenn man Papiere für Ungarn hat, grassiert der Rassismus dort so stark, dass es dort oder auch in Italien sehr schwer ist, ein neues Leben aufzubauen. Also wieder und wieder und wider die Dublin-Verordnung: Sie ist es, was wir gern verändern würden.

Berichten eigentlich die französischen Medien noch über die Situation?

In den Nachrichten ist absolut nichts über Calais und Grande-Synthe. Es geht nur um die Leute, die zuhause im Confinement sind, manche an einem komfortablen Ort, manche nicht, aber das ist alles, wovon Du hörst. Da ist gar nichts mehr über die Geflüchteten.

Gibt es zurzeit Formen von Selbstorganisation oder politischen Statements seitens der Geflüchteten?

Es gab einen Offenen Brief, den Eritreer geschrieben haben und in dem sie über die Gewalt der CRS klagen [Compagnies républicaines de sécurité – die in Calais ständig anwesende Bereitschaftspolizei, d.Übers.]. Davon abgesehen gibt es momentan keinerlei politische Organisation unter den Geflüchteten. Im Laufe der Jahres hat es immer wieder welche gegeben, aber sie bestanden nie lange, denn die Geflüchteten begriffen nach einer Weile, dass Sie Dinge schreiben, mit Journalist_innen reden, diskutieren, aber niemand hört sie und die Dinge verändern sich nicht. Aus ihrer Sicht ist die einzige Lösung die, nach Großbritannien zu gehen. Wie sind sehr davon überzeugt, dass humanitäre Hilfe allein nichts verändert, sondern dass wir gleichzeitig auch politisch aktiv sein müssen, also machen wir beides. Ich bin seit 2014 dabei und damals gab es eine ganze Gruppe politischer Aktivist_innen, die die Dinge verändern wollten und den richtigen Weg darin sahen, die Geflüchteten über ihre Rechte aufzuklären und dafür zu kämpfen. Aber diese Leute sind alle weg, sie haben alle Calais verlassen oder sind nicht mehr besonders involviert.

Inwiefern hat sich das Ausmaß der Polizeigewalt seit dem Beginn des Lockdown verändert?

Es ist so ziemlich gleich geblieben. Sie existierte schon vorher, und sie wird weiter existieren. Die CRS-Einheiten kommen jeweils für drei Wochen nach Calais, und sie kommen aus allen Teilen Frankreichs. Wenn sie dann ankommen, sind sie nicht mit der Situation vertraut und haben keine Ahnung. Sie wurden vielleicht von ihren Chefs gebrieft, dass die Flüchtlinge Leute seien, vor denen man sich in Acht nehmen müsse, dass sie gewalttätig seien, solche Dinge halt. So kommt es dann, dass einige Einheiten ganz anders agieren als andere; es hängt von den Chefs ab und davon, wie sie ihre CRS ermuntern zu arbeiten. Eher Gewalt auszuüben oder einfach die Augen zu verschießen und ihnen den Rücken zuzukehren.

Kürzlich haben wir eine große Beschwerde eingereicht, und die Eritreer haben den Brief geschrieben, weil eine Einheit irgendwie etwas gegen die Eritreer in einem bestimmten Camp in Calais zu haben schien und dort unglaublich gewalttätig waren. Sie setzten ihre Schlagstöcke ein, sie verletzten einige Leute schwer und sie schienen das jedes Mal zu machen, wenn sie in dem Camp eintrafen. Ich weiß nicht wie es angefangen hat, aber es war eine ganz bestimmte Einheit. Wir haben ihre Nummern, die Kennzeichen ihrer Fahrzeuge, und wir legten eine Beschwerde beim Unterpräfekten ein. Die Eritreer schrieben einen Offenen Brief, damit es aufhört. Der Unterpräfekt antwortete im Wesentlichen, dass sie eine interne Ermittlung eingeleitet hätten, von der wir wahrscheinlich nie wieder hören werden, oder er wird sagen, dass nichts passiert sei, denn es steht immer das Wort der Betroffenen gegen das Wort der Polizei. Er sagte uns auch, dass die betreffende Einheit Calais abgezogen sei, woraufhin diese spezielle Gewalt nachgelassen hat, aber es ist so, dass sich neue Dinge wie diese immer wieder ereignen werden, es schwankt also. Die Polizeigewalt hat wegen des Confinement nicht zugenommen. Vielleicht schikanieren sie die Leute ein bisschen mehr, um sie davon abzuhalten, ihr Camp zu verlassen, und sagen ihnen, dass sie dass nicht dürften, aber es ist mal so und mal so; wirklich – es ist immer etwas los und manchmal wird es richtig schlimm, aber ich denke, es liegt nicht am Confinement.

In den vergangenen Wochen hab es einige Spannungen. Kannst Du uns etwas darüber sagen, welche Hintergründe dabei eine Rolle spielten?

Nun, es gab einige Spannungen, und einer unserer Wagen wurde niedergebrannt. Es kommt häufiger vor, dass es wirkliche Spannungen gibt und die Verteilungen [von Nahrung bzw. Hilfsgütern, d. Übers.] abgebrochen werden müssen; die Freiwilligen müssen dann schnell alles wieder in ihren Van packen und verschwinden, und wenn die Dinge sich beruhigt haben, kommen sie wieder zurück. Das geschieht oft, weil eine Person ausrastet und sich ärgert und sich dann andere Personen einmischen oder den Betreffenden aufhalten wollen. Manchmal geschieht es, weil ein Geflüchteter oder ein paar von ihnen getrunken haben, was in der gegebenen Situation verständlich ist. Die Spannungen sind da, weil es so viele Gründe gibt, die Stress erzeugen: Neben den Lebensbedingungen sind da das Virus und das Social distancing, auf das man achten soll. Die Ernährungslage hat sich inzwischen wenigstens verbessert. Aber an den letzten paar Tagen gab es heftigen Regen und Wind, und die Geflüchteten müssen absolut durchnässt gewesen sein. Und dann zusätzlich noch die Räumungen, das macht die Leute einfach fertig. Es ist nur normal, dass sie dann aus den geringsten Anlass plötzlich zusammenbrechen und wütend werden. Häufig geraten Leute wegen einer Kleinigkeit aneinander und plötzlich hast Du zwei Gruppen, die gegeneinander kämpfen.

In Calais sind in den vergangenen Monaten sehr viele neue Zäune gebaut worden. Was soll damit erreicht werden?

Diese Zäune dienen vor allem dazu, die Räume, in denen sich geflüchtete bewegen können, kleiner und kleiner zu machen. Einige dieser Zäune wurden nicht durch die britische Regierung, sondern durch die Stadt Calais errichtet, entweder weil das Land, das sie umgeben, privaten Eigentümern oder der Stadt selbst gehört. Die Stadt umzäunt diese Stücke Land um zu verhindern, dass Leute sich dort niederlassen. So sind nun also die Zäune errichtet und der Klingendraht angebracht worden, aber die Leute leben immer noch irgendwie innerhalb dieser Zäune; diese sind bisher noch nicht verschlossen worden, aber es wird geschehen. Im Wesentlichen macht das es schwerer und schwerer für die Geflüchteten, einen Platz zu finden, an dem sie ihr Zelt aufbauen können. Was an Calais wirklich verrückt ist sind die vielen kleinen Wäldchen und Parks, die eingezäunt und mit Toren versehen wurden, damit Flüchtlinge dort keine Zelte aufbauen. Die Stadt hat diese Tore eigentlich soweit zugemacht und verschlossen, sodass die Flüchtlinge dort nicht mehr siedeln können, aber ebenso wenig können die Einwohner von Calais dort noch spazieren gehen. Damit sind diese Plätze buchstäblich für alle geschlossen, und das ist richtig, richtig bescheuert. Bei vielen Parks in Calais ist das inzwischen so.

Wir haben seit längerem keine Meldungen mehr über Todesfälle an der Grenze gehört. Trifft das zu?

Es ist so, es gab sehr wenig Todesfälle. Es waren mehr, als mehr Leute versuchten, mit dem Lastwagen nach Großbritannien zu gelangen. Sie verletzen sie sich, wenn sie manchmal vom Dach eines Lasters sprangen oder quer über die Autobahn liefen. Ich erinnere mich, dass ein Flüchtling von der Ladung zerquetscht wurde, als der Laster, in dem er war, plötzlich bremsen musste. Solche Situationen verursachten eine Reihe von Todesfällen. Bei den Booten scheinen es viel weniger zu sein. Es gab nur vier in den vergangenen anderthalb Jahren, will sagen: vier Tote wurden gefunden, während einige andere vielleicht nicht gefunden wurden.

Eigentlich werden die Bootspassagen für absolut unsicher und unmöglich gehalten, aber sie scheinen eine Möglichkeit zu sein, der relativ gut funktioniert. Und sie nehmen zu. Es gab 2019 mehr Bootspassagen als 2018, und ich nehme an, dass es in diesem Jahr wieder einige mehr sein werden.

Gibt es denn Informationen über Vermisste?

Nein, wir wüssten nicht, dass Leute vermisst wären. Wenn Leute den Kanal mit dem dem Boot zu überqueren versuchen und es irgendwie kentern oder sinken würden, würden die Geflüchteten zu uns kommen uns uns sagen, dass ihr Freund, ihre Schwester oder ihr Cousin vermisst sei und ob wir wüsste, wo sie sein könnten. Und dann würden wir die Zeitungen nach irgendwelchen Hinweisen auf einen Unfall durchsuchen, aber das ist nicht geschehen. Ich nehme deshalb ab, dann es keine oder nur sehr, sehr wenige Fälle von Leuten gegeben hat, die auf See ertrunken sind.

Und was ist eigentlich mit dem Brexit?

Wenn Du die Zeitungen verfolgst, existiert der Berxit nicht mehr. Wir haben während der letzten beiden Monate kein Wort mehr über den Brexit gehört, das einzige , was wir tagein und tagaus hören, ist Confinement und Virus. Der Brexit – was ist das? Tatsache ist, da wird sich bis zum Ende des Jahres nichts ändern.