Abdulfatah Hamdallah ist derjenige, dessen Leichnam am Morgen des 19. August 2020 am Strand von Sangatte westlich von Calais gefunden wurde.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten bei der Durchquerung des kontinentaleuropäisch-britischen Grenzraums ihr Leben verloren haben, wurde sein Tod unmittelbar zum Medienereignis. Er fiel in eine Zeit, in der die maritime Route vom Festland auf die britischen Inseln zu einem Topthema britischer Innenpolitik und zum Gegenstand internationaler Berichterstattung geworden war. Dabei schien es zuweilen, als warte man auf das erste havarierte Schiff mit einem ersten Dutzend Toten.
In diesem Kontext verbreitete sich die Nachricht vom Leichenfund in Sangatte rasch, und mit ihr die vorschnelle Annahme, es handle sich um ein jugendliches Opfer im Alter von 16 Jahren. Inzwischen weiss man, dass er erwachsen war. Doch löste die Korrektur der Fehlinformation – die auch wir auf diesem Blog wiedergegeben haben (siehe hier) – eine zeite Welle von Berichten aus, in der die Nichtjugendlichkeit des Opfers die Tastache und die empörenden Umstände seines Todes zu überlagern und zu relativieren schienen. Als sei der Tod dann weniger ein Tod.
Inzwischen ist einiges mehr über Abdulfatah Hamdallah bekannt geworden, u.a. durch die Recherchearbeit des Guardian. Er stammte demnach aus dem sudanesischen West-Kordofan, einer Nachbarregion von Darfur. Wie alt er war, ist weiterhin nicht ganz klar. Von Angehörigen erfuhr die Zeitung, er sei 22 Jahre alt gewesen, während die für die Untersuchung des Falles zuständige Staatsanwaltschaft in Boulogne-sur-Mer ein Alter von 28 Jahren mitteilte und sich auf Papiere berief, die der Tote mit sich geführt habe. Jedenfalls, so der Guardian, verließ Abdulfatah 2014 den Sudan, um wie seine Brüder in Libyen zu arbeiten und die Familie zu unterstützen. Von dort erreichte er Italien und schließlich Frankreich, so er einen Asylantrag stellte und drei Jahre verbrachte. „In Frankreich lehnten sie seinen Fall ab, und so entschied er sich, nach Großbritannien zu gehen. Er wollte ein besseres Leben haben nach dem Schrecken, in dem wir früher gelebt haben“, so ein älterer Bruder. Seit etwa zwei Monaten lebte er in Calais, wo ein Cousin sich ihm anschloss. Dieser berichtete dem Guardian, wie sich Abdulfatah am Vorabend mit dem häufig gehörten und viel zitierten Satz verabschiedet habe, man werde sich auf der anderen Seite (gemeint: des Kanals) sehen. Auf Facebook habe er noch den Satz verfasst: “on the palm of fate we walk, and don’t know what’s written”.
Bislang sind im Kontext der Transitmigration von Frankreich und Belgien nach Großbritannien mindestens 275 Todesfälle dokumentiert worden. Viele dieser Grenztoten waren Jugendliche, die meisten waren junge Erwachsene, und meist nahm die Öffentlichkeit jenseits der Lokalpresse von ihrem Tod keine Notiz. Nur die wenigsten starben auf See. Meist verunglückten sie bei Passageversuchen per Lastwagen oder Zug, in zwei katastrophalen Fällen erstickten größere Gruppen während einer Schleusung in luftdichten Containerräumen. Von denjenigen, die bei Bootspassagen verunglückten, starben fast alle bei hochriskanten und improvisierten Manöwern wie dem von Abdulfatah Hamdallah und seinem überlebenden Begleiter, die ein gestohlenes Kinderschlauchboot mit Schaufeln als Paddel benutzt hatten. Im Gegensatz zur Alterbestimmung des Verstorbenen haben sich die Angaben hierüber bestätigt. Auch hat die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Autopsie inzwischen Ertrinken als Todesursache bestätigt.
Etwa 60 Menschen hielten am Abend des 20. August in der Innenstadt von Calais eine Gedenkveranstaltung ab, so wie es seit einigen Jahren nach bekannt gewordenen Todesfällen geschieht. Ort des Gedenkens war auch diesmal der Vorplatz des Richelieu-Parks: das Ehrenmal für die Gefallenen der Französischen Republik.
Nachtrag. Am 24. August wurde Abdulfatah Hamdallah in Calais beigesetzt. Rund 150 Menschen, die meisten von ihnen Teil der sudanesischen Community, begleiteten seinen Sarg.