Ankunftsland UK (Teil II): Interview mit der Initiative Channel Rescue
Seit Ende September ist auf der britischen Seite des Kanals die Initiative Channel Rescue aktiv. Ein Netzwerk aus Freiwlligen, um die Küste konstant zu beobachten, hinsichlich Überfahrten, Menschenrechten und möglicher Pushbacks. Im Interview geht es daneben auch um die Rolle der crossings im politischen Diskurs in Großbritannien, den nahenden Brexit und die nationalistischen Aktivisten, die sich ebenfalls auf den Klippen von Dover tummeln (und auf die ein weiterer Beitrag auf diesem Blog demnächst näher eingehen wird).
Wie kam es zur Gründung von Channel Rescue?
In Großbritannien sahen wir in den letzten 12 Monaten eine steigende Zahl an Kanal-Überquerungen, aber auch ein zunehmendes Narrativ in den Medien, das verletzbare Menschen, die den Kanal überqueren, dämonisiert. Die Realität ist eine beginnende humanitäre Krise, in der Männer, Frauen und Kinder ihr Leben riskieren auf der Suche nach dem Schutz, der ihnen gemäß internationaler Abkommen zusteht, welche Großbritannien unterzeichnet hat.
Außerdem sind wir besorgt, dass die Regierung Pushbacks und andere potentiell gefährliche Methoden im Kanal ausprobiert um diejenigen, die ihn überqueren, am Eintritt in britische Gewässer zu hindern. Wir haben gehört, dass möglicherweise Netze verwendet werden sollen, es gab sogar die Idee physischer Barrieren, man redete über eine Welle, die Boote zurückdrängen sollte. Bei uns löst das große Besorgnis aus, wie die britische Regierung reagieren wird.
Darum kam eine Gruppe von Leuten aus vielen verschiedenen Organisationen, die Asylsuchende und Geflüchtete unterstützen, zusammen, und entschieden sich ein Projekt namens ‚Channel Rescue‚ ins Leben zu rufen. Es begann als Crowdfunding-Projekt. Wir bekamen 17.000 Pfund in wenigen Tagen zusammen. Dazu wollten viele Menschen vorbeikommen und als Freiwillige mitmachen, und sich an etwas beteiligen, dass herausfordernd ist und in diese zunehmende Krise interveniert.
Und was genau macht Channel Rescue?
Wir sind eine grass roots- Menschenrechts- Monitor- Organisation, komplett selbstfinanziert, ohne Unterstützung von irgendeiner Seite, sehr grass roots. Wir haben uns gegründet als Antwort auf die zunehmende Sekurisierung und Militarisierung des Ärmelkanals. Unser Ziel ist es Tatsachen zu finden, Ankünfte zu dokumentieren, als rechtliche Beobachter zu agieren, und sofortige grundlegende Hilfe für diejenigen zu bieten, die die Überfahrt machen und kürzlich angekommen sind. Wir wollen Reports zusammenstellen um die Geschehnisse auf See zu dokumentieren, die uns erlauben die Autoritäten zur Verantwortung zu ziehen, bei ihrer Pflicht die Menschenrechte derer zu gewährleisten, die den Kanal überqueren.
Wir plädieren auch für sichere Passagen und progressive Gesetzgebung. Und wir wollen in der unmittelbaren Situation nach einer Ankunft essentielle und grundlegende humanitäre Unterstützung bieten, bis die Autoritäten vor Ort sind und sich um sie kümmern.
Auf euren Posts und Internet-Auftritten sieht man vor allem Bilder von Patrouillen.
Wir zielen darauf ab, an sieben Tagen pro Woche Küsten-Patrouillen zu organisieren. Im Moment sind das zwei bis drei Tage. Wir haben regelmäßige Beobachtungspatrouillen an der Küste von Kent. Wir dokumentieren jede Search- and- Rescue-Aktion, die wir sehen; wir dokumentieren das Auftreten der Border Force und auch Einschüchterungsversuche durch Boote, die von Rechten organisiert werden. Und wir gehen covid secure vor, wir haben also nur drei Personen zur gleichen Zeit. Eine beobachtet das Meer, eine nimmt auf, und eine erhält die Kommunikation aufrecht.
Wie bereitet Ihr euch darauf vor?
Alle unsere Freiwilligen hatten ein intensives eintägiges Training, die online stattfinden. Dort werden die Basiskenntnisse vermittelt, wie man kleine Boote auf See sieht, wie man etwa ein Schiff in Schwierigkeiten erkennt und was zu tun ist. Die Leute, die die Trainings geben, haben schon vorher in Krisensituationen gearbeitet. Wir machen Video- Dokumentationen von jedem Einsatz um die Leute, die auf Beobachtung sind, und uns selbst zu beschützen.
Wir retten nicht im eigentlichen Sinn Menschen, weil das derzeit nicht notwendig ist und Border Force, Küstenwache und RNLI (Seenotretter) die Boote abfangen, bevor sie die Küste erreichen. Wir sind nur die Augen des Kanals um sicherzustellen, dass die Operationen dieser Autoritäten konform mit internationalen Regeln ausgeführt werden. Wir sind auch sehr besorgt über Berichte, wonach Menschen angegriffen wurden, nachdem sie in Großbritannien angekommen waren, und wir wollen sichergehen, dass es keine Menschenrechtsverletzungen gibt.
Wie seht Ihr die Entwicklung der Überfahrten nun, nach dem Sommer?
Ich denke, dass wir über den Herbst hinweg eine Abnahme der Zahl der Boote sehen werden. Im September waren es z.B. 1.974 crossings, und im Oktober im Vergleich eine relativ kleine Anzahl von 72 bislang (Stand 17. Oktober). Das ist auf demselben Niveau wie in dieser Zeit 2019. Wir denken, dass es im Winter einen Abfall der Zahlen geben wird. Dennoch: wir bewegen uns im UK in schnellem Tempo auf einen No Deal-Brexit zu, was einen Effekt auf die Überfahrten haben könnte, indem sie wahrscheinlicher werden. Es hat sicher einen Effekt auf die Beziehung zwischen Großbritannien und Frankreich, denn als Teil der EU haben die Franzosen diese Grenze instand gehalten. Die Frage ist, was passiert, wenn wir Europa verlassen, und wie es dann um diese Grenze stehen wird.
Inwiefern spielt die Operation Sillath für euch eine Rolle?
Wir sind uns sehr bewusst über Operation Sillath. Als Channel Rescue agieren wir eigentlich nicht auf diesem Level, aber Teil unseres Projekts ist es, nachzugehen was mit Leuten passiert, wenn sie in das System kommen. Wir arbeiten mit anderen Organisationen im UK zusammen, die Unterstützung in Haft bieten. Wir sind sehr besorgt, dass sie Abschiebungen beschleunigen. Zumal wir sehen, dass einige, wenn nicht alle dieser Abschiebungen eigentlich ungesetzlich sind, weil die Leute kaum oder keine Benachrichtigung erhalten und keinen Zugang erhalten haben zu juristischer Unterstützung. Das bedeutet, dass sie nicht rechtzeitig ausreichend Hilfe bekommen konnten, weshalb diese Abschiebungen ungesetzlich sind. Eine unserer großen Herausforderungen ist es, Organisationen zu unterstützen, die weiterhin juristische Hilfe anbieten für Menschen, die von Abschiebung bedroht sind.
Wie steht es um die rechten, nationalistischen Aktivisten, die auch im Gebiet aktiv sind, und sich selbst ‚migrant spotters‘ nennen?
Was die extreme Rechte angeht, gibt es eigentlich eine Teilung. Es gibt Britain First, und dann die, die noch weiter rechts stehen. Und es gibt einige Spannung zwischen diesen Organisationen. Bei Britain First sehen wir zwei Protagonisten: The Little Veteran und The Active Patriot, die viele Videos produzieren und die online stellen, auf Youtube etwa. Sie haben viele Folger, und sie sind sehr entschieden gegen Leute, die an den Stränden landen.
Das Innenministerium unterhält zwei Militärcamps [Anmerkung der Redaktion: als Unterbringung für mit dem Boot angekommene MigrantInnen], eines in Wales, und eins, das Napier heißt, das ist in Folkestone. Und die entsetzlichen Bedingungen in diesen alten Militärbaracken, die für die Situation ungeeignet sind, Toiletten überströmen, nicht covid- geeignet, keine Privatsphäre, lösen viel Besorgnis aus. Dazu kommt, dass diese besagten Leute rechtsextreme Proteste bei den Baracken angeregt haben, bei denen Menschen angeschrieen und beleidigt und Videos aufgenommen wurden.
Schätzt Ihr diese Aktivisten als bedrohlich ein, oder sind es eher irrlichternde Sonderlinge?
Es ist definitiv eine Bedrohung, weil sie zum Beispiel imstande sind Leute zu aktivieren, die ursprünglich nicht notwendigerweise so stark gegen Migranten eingestellt waren. Die andere Sache, die, wie ich finde, sehr deutlich ist: im Fall von jemand wie The Little Veteran gibt es offensichtlich ein sehr ernsthaftes Trauma, das diese Person erfahren hat. Er war in der Armee, scheinbar auch im Kampfeinsatz, litt als Folge dessen an posttraumatischer Belastungsstörung, und es scheint da noch unterliegende Probleme zu geben. Sie sind weirdos, aber weirdos mit bedeutender Unterstützung. Darum sind sie eine Bedrohung, und man muss sie ernstnehmen.
Wie steht es um die Rolle der BootsmigrantInnen im medialen Diskurs?
Was den medialen Narrativ in Grossbritannien betrifft, gelingt es den rechten Medien zu sagen: „Schaut, die Migranten sind an allem Schuld.“ Wir machen die verletzbarsten Menschen zu Sündenböcken und für alles verantwortlich, und das ist auch Teil des Problems, das wir in Großbritannien sehen mit Austerität, mit der wirtschaftlichen Rezession, die noch verschlimmert wird durch Covid, und das scheint verschlimmert zu werden durch den harten Brexit. Dadurch haben wir eine Situation, in der die Leute hier wirklich am Kämpfen sind. Und die Wahrnehmung ist, dass Migranten alles bekommen, Autos und Häuser, während unsere Veteranen obdachlos auf der Straße sind. Das ist wirklich etwas, das wir angehen müssen. Es gibt ein Armutsproblem in Großbritannien, wachsenden Bedarf an Tafeln, und es ist sehr wichtig dass wir uns nicht gegeneinander wenden und alle Probleme die wir haben nicht auf die Verletzbarsten in der Gesellschaft schieben.