In diesem Jahr sind bereits über 700 Geflüchtete per Boot von Frankreich nach Großbritannien gelangt, etwa doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Dynamik der Channel crossings dauert also unvermindert ab. Doch auch räumlich könnte sich das Gebiet ausweiten, in dem diese maritimen Grenzübertritte stattfinden: Am 9. März meldeten französische Behörden und Medien, dass von Dieppe in der Normandie erstmals ein Boot mit Migrant_innen in See gestochen sei. Die von dort aus zurückzulegende Strecke ist bedeutend länger als im Küstenabschnitt von Calais – und entsprechend riskanter.
Das Portal InfoMigrants fasst die Geschehnisse vom 9. März auf Bais von Informationen des Verteidigungsministerium, der Seepräfektur (Préfecture maritime Manche et mer du Nord), der Präfektur Seine-Maritime und lokaler Medien zusammen: Demnach wurden im Ärmelkanal bei Dieppe 33 Bootspassagiere afghanischer, sudanesischer, irakischer, syrischer und pakistanischer Herkunft nach mehreren Stunden auf See geborgen und auf das französische Festland zurückgebracht. 18 von ihnen waren Männer, 5 waren Frauen und 10 waren Kinder, darunter ein Baby. Die Exilierten waren in einem halbfesten Schlauchboot, wie es typischerweise bei Bootspassagen eingesetzt wird, von einem Strand in Berneval-le-Grand in der Gemeinde Petit-Caux aus in See gestochen. Die kleine Ortschaft liegt etwa zehn Kilometer östlich von Dieppe; topographisch handelt es um ein Gebiet mit Steilküsten.
InfoMigrants vermutet, dass „die Strände dieser Gemeinde offensichtlich von Schmugglern als Abfahrtsort identifiziert worden sind.“ Bereits fünf Tage zuvor, am 4. März, waren zehn Migranten aus Vietnam, Irak und Iran im nahegelegenen Neuville-lès-Dieppe festgenommen worden; zur gleichen Zeit sei am Fuß der Klippen von Belleville-sur-Mer, das ebenfalls zur Gemeinde Petit-Caux gehört, ein Boot gefunden, was auf eine geplante Kanalüberquerung schließen lasse. Bereits im Oktober und Januar seien in Berneval-le-Grand mehrere Personen gesichtet worden, die anscheinend „nach einer Möglichkeit suchten, um nach England zu gelangen“.
Ob und wie diese Fälle tatsächlich zusammenhängen, ist nach Angaben lokaler Medien unklar; das Gleiche gilt für die Frage, ob es sich um ein punktuelles Ereignis handelt oder sich eine nachhaltige räumliche Ausweitung der Kanalroute zeigt. Eine mögliche Erschließung neuer Varianten der Kanalroute ist als Effekt der u.a. durch neue britisch-französische Abkommen (siehe hier) verstärkten Überwachung des französischen Küstengebiets im geographisch sehr viel günstigeren Gebiet zwischen Boulogne-sur-Mer, Calais und Dunkerque zumindest denkbar. Langjährige Beobachter_innen der Entwicklung hatten einen solchen Effekt u.a. gegenüber diesem Blog prognostiziert (siehe hier und hier).