Nach dem verheerenden Bootsunglück auf dem Ärmelkanal vor einer Woche dominieren gegenseitige Schuldzuweisungen die politische Aufarbeitung in Frankreich und Großbritannien. Die von EU und Großbritannien als Reaktion jeweils auf den Weg gebrachten Maßnahmen bewegen sich im erwartbaren Rahmen und dürften kaum dazu beitragen, Menschenleben zu retten. Der politische Druck aus der Zivilgesellschaft nimmt jedoch zu und zeigt erste Auswirkungen.
Im Rathaus von Calais fand am Sonntag – vier Tage nach dem Unglück – ein Treffen der Innenminister_innen Frankreichs, Belgiens, der Niederlande und Deutschlands sowie des EU-Kommissars für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Janez Lenarčič, statt; die britische Innenministerin war nach einem politischen Zerwürfnis ausgeladen worden. Die Ergebnisse waren ebenso dürftig wie vorhersehbar:
- Ein Flugzeug der Grenzschutzagentur Frontex soll künftig die Küste überwachen. Der Einsatz soll am heutigen Mittwoch beginnen.
- Es wurde vereinbart, verstärkt gegen Schleuser_innen vorzugehen.
- Es wurde vereinbart, auf EU-Ebene ein neues Migrationsabkommen mit Großbritannien auszuhandeln.
- Die britische Regierung wurde aufgefordert, die Arbeitsaufnahme für illegalisierte Menschen im Land zu erschweren.
- Die britische Regierung wurde aufgefordert, legale Migrationswege zu schaffen.
- Es wurde vereinbart, den Verkauf von Schlauchbooten strenger zu regulieren, einschließlich der Vorstellung, mit den Herstellerländern Türkei und China darüber zu verhandeln, wie Schleuser_innen der Zugriff auf diese später in Europa verkauften Schlauchboote erschwert werden kann.
Auch wenn der französische Innenminister Gérald Darmanin mit Blick auf die Ausladung seiner britischen Amtskollegin das Treffen nicht als gegen die Briten gerichtet verstanden wissen wollte, sondern stattdessen lieber von einem starken Signal der Zusammenarbeit innerhalb der EU sprach, so liegen doch nur die ersten beiden Beschlüsse überhaupt innerhalb der ausschließlichen Gestaltungsmöglichkeiten der EU.
Der verstärkte Kampf gegen Schleuser_innen wird angesichts der langen Küstenlinie kaum ein Ende der Passagen bedeuten. Er wird die Preise für die zu Schleusenden erhöhen und ein Ausweichen auf längere und damit riskantere Routen bewirken.
Das Frontex-Flugzeug könnte abhängig von seiner technischen Ausstattung und dem politischen Willen zur konsequenten Seenotrettung auf beiden Seiten des Kanals tatsächlich zunächst einmal Menschenleben retten. Ob es technisch dazu in der Lage ist, wissen wir noch nicht – auf Flightradar war das Flugzeug am frühen Mittwochabend noch nicht zu identifizieren. Ein am frühen Nachmittag von Innenminister Darmanin per Twitter veröffentlichtes Foto zeigt, wie es gerade in Lille eintrifft. Zweifelsohne aber wird das Flugzeug, wenn es einmal im Einsatz ist, Passagen vereiteln und somit ebenfalls Druck erzeugen, auf abgelegenere, längere und damit gefährlichere Routen auszuweichen.
Gleich die Hälfte der Vorschläge sind auf ein Mitwirken der ausgeladenen britischen Regierung angewiesen und ihre Umsetzung ist angesichts der innenpolitischen Lage in Großbritannien chancenlos, weil sie im Grunde direkt die Folgen des Brexit adressieren. Der Mangel an Arbeitskräften in Großbritannien im Niedriglohnsektor ist eine direkte Folge des Brexit, eine gemeinsame Migrationspolitik Großbritanniens und der EU ist für die Brexiteers ein rotes Tuch, und mit der anglo-amerikanischen Aversion gegen formale Überregulierung ist selbst dann zu rechnen, wenn sie Arbeitsmöglichkeiten für illegalisierte Menschen eröffnet und Großbritannien als Migrationsziel attraktiv macht.
Es ist schwer vorstellbar, dass den vertretenen Ministern und dem Kommissar diese politische Dimension ihrer Vorschläge nicht bewusst gewesen ist. Auch der letzte Vorschlag der Runde – den Nachschub an Schlauchbooten durch Verhandlungen mit den produzierenden Ländern abzuschneiden – kann nur in zwei Richtungen interpretiert werden: das Eingeständnis völliger Hilflosigkeit oder der Hinweis, dass man – ähnlich wie die britische Regierung – mit dem Status Quo aus politischen Erwägungen ganz gut leben kann und die Toten in Kauf genommen werden.
Der britische Premierminister Boris Johnson hatte sich heute im Parlament einer Fragestunde zu stellen. Diese deckte – wie üblich – ein weites Themenspektrum ab, von einer Party in der Downing Street während des Lockdowns, über das Gesundheitswesen, die Maßnahmen der Regierung angesichts der Covid-19-Pandemie bis eben auch zu dem Bootsunglück im Ärmelkanal. Bezeichnend für das Denken des britischen Premiers ist sein genervt gesprochener Satz: „Mister Speaker, wenn wir auf die Opposition gehört hätten, dann hätten wir noch heute Lockdown und unkontrollierte Migration“.
Johnson stellt damit in seiner schnoddrigen Art – und in Verbindung mit Covid-19 – klar, was beim französischen Innenminister implizit festgestellt werden muss: Die Toten werden in Kauf genommen. Aber ähnlich wie seine EU-Kollegen nutzt auch der britische Premier die Tragödie von vor einer Woche für seine eigene politische Agenda.
Im Unterhaus steht die dritte Lesung des Nationality and Borders Bill an. Mit Blick auf die Tragödie im Ärmelkanal wirbt Johnson für das Gesetz, das im wesentlichen Flüchtlinge in zwei Gruppen unterteilt. Einer Gruppe gesteht es die bisherigen Rechte vollständig zu; zu dieser Gruppe gehören kann mit wenigen Ausnahmen nur, wer legal eingereist ist und einen legitimen Asylgrund vorweisen kann. Für eine zweite Gruppe, nämlich diejenigen, die illegal eingereist sind oder in einem Drittstaat hätten Zuflucht finden können, sieht sie vor, dass ihr Rechtsschutz empfindlich eingeschränkt wird, und sie in beliebige Drittstaaten deportiert werden können.
Jurist_innen in Großbritannien räumen dem Entwurf aus juristischer Sicht wenig Bestandschancen ein, da er internationale Vereinbarungen verletzt. Auch wenn in der oben genannten Fragestunde ein Abgeordneter des rechten Spektrums gleich den Ausstieg Großbritanniens aus der Genfer Flüchtlingskonvention gefordert hat – und auch wenn es wahrscheinlich ist, dass der Entwurf das Unterhaus passiert – es scheint nicht sehr wahrscheinlich, dass er auch vor den Gerichten so Bestand haben wird, wie er formuliert ist.
Die Tragödie vor einer Woche hat jenseits der Spitzenpolitik eine Mobilisierung bewirkt, die erste Folgen zeitigt. Der französische Innenminister hat darauf hingewiesen, dass die Zerstörung von Zelten – eine Praxis, die wir jahrelang aus eigener Beobachtung und aus Berichten kennen – bei Räumungen nicht von staatlichen Anordnungen gedeckt und daher zu unterlassen sei. Würde der unerträgliche Druck auf Exilierte in Calais und der Region nachlassen, würde auch der Druck, die Gegend schnell und im Zweifel um jeden Preis mit dem Ziel Großbritannien zu verlassen, nachlassen. Das könnte tatsächlich Menschenleben retten.