Weitere Indizien unterstreichen die Vermutung, dass sich die Havarie, bei der am 24. November 2021 mindestens 27 Menschen starben, im britischen Hoheitsbereich ereignet hat. Die beiden Überlebenden sowie Angehörige von Opfern hatten dies übereinstimmend gegenüber der kurdischen Mediengruppe Rustaw berichtet. Außerdem hatten die Überlebenden geschildert, dass die telefonisch alarmierten Küstenwachen beider Staaten wechselseitig behauptet hätten, das Boot befände sich im jeweils anderen Hoheitsgebiet – mit dem Ergebnis, dass keine Rettung erfolgte, bis ein Fischer die im Wasser treibenden Leichen entdeckte (siehe hier). Darüber hinaus wurde nun die Aussage eines Geflüchteten publik, der wenige Tage vor der Havarie eine ähnlich kafkaeske Situation erlebt hatte. Das offensichtliche Versagen der britischen Küstenwache könnte also kein Einzelfall gewesen sein.
Die neuen Erkenntnisse wurden am 30. November von Watch the Channel und Calais Migrant Solidarity vorgelegt. Ausgangspunkt ihrer Analyse ist eine Erklärung, die das britische Innenministeriums als Reaktion auf die Berichte von Rustaw abgegeben hatte: „Officials here confirmed last night that the incident happened well inside French Territorial Waters, so they led on the rescue effort, but [we] deployed a helicopter in support of the search and rescue mission as soon as we were alerted.“ Aus der Erklärung des Ministeriums geht nicht hervor, in welchem Zeitraum die von einem Helikopter unterstützte Such- und Rettungsaktion stattfand.
Flugdaten, die der italienische Journalist Sergio Scandura teils bereits am Tag der Havarie veröffentlicht hat, dokumentieren den Einsatz eines britischen Rettungshubschraubers, der sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Havarie stattgefunden hat. Wenn dies zutrifft, dann belegen diese Daten, dass das Zentrum der Suche im Gegensatz zur Erklärug des Innenministeriums auf der britischen Seite der Seegrenze lag – und zwar lange bevor die französischen Stellen nach dem Leichenfund des Fischers am frühen Nachmittag des 24. November ihre Such- und Rettungsoperation begannen.
Demnach flog der Hubschraubers G-MCGU der britischen Küstenwache (mit der Bezeichnung Sar 111232535 auf MarineTraffic) am 24. November dreimal über das gleiche Gebiet des Ärmelkanals.
Der erste Flug (in Abb. 2 grün dargestellt) datiert von 3:46 bis 6:26 Uhr britischer Zeit und zeigt ein quadratisches Suchmuster, das ausgehend vom vermuteten Ort der Havarie absolviert wurde. Dieser Ausgangspunkt der Suche befand sich, wie in Abb. 1 gut erkennbar, im britischen Hoheitsgebiet. Der Flug erfolgte zu dem Zeitpunkt, als das Schlauchboot nach den Aussagen der Überlebenden und Angehörigen bereits manövrierunfähig im Kanal trieb – der Motor soll zwischen 2:15 und 2:45 Uhr ausgefallen sein –, durch Luftverlust instabil wurde und die Passagier_innen zahlreiche Notrufe absetzten. Einer der beiden Überlebenden sagte, bei Sonnenaufgang hätten die Menschen die Hoffnung aufgegeben, noch zu überleben. Der Sonnenaufgang war um 7:23 Uhr britischer Zeit.
Die beiden anderen Helikopterflüge (lila und blau dargestellt) fanden von 13:16 bis 15:19 Uhr und von 16:03 bis 18:19 Uhr britischer Zeit statt, wobei sich das Zentrum der Suche zunächst etwas nach Osten und dann deutlich nach Süden, also in Richtung Frankreich, verlagerte. Dies entspricht der Aussage der Überlebenden und Angehörigen, das havarierte Boot bzw. die Leichen seien vom britischen zurück in den französischen Teil des Ärmelkanals getrieben.
Der zweite Start des Helikopters um 13:16 Uhr britischer Zeit entspricht, so die Autor_innen von Calais Migrant Solidarity und Watch the Channel, „ungefähr dem Zeitpunkt, an dem die Franzosen ihre Such- und Rettungsaktion starteten, und es ist wahrscheinlicher, dass dies der Start bzw. der ‚Zwischenfall‘ ist, auf den sich das [britische] Innenministerium bezieht. Erst um 15:47 Uhr [französischer Zeit] twitterte die Préfecture maritime Manche et mer du Nord, dass sie eine Such- und Rettungsaktion für ein havariertes Boot im Ärmelkanal koordiniert.“ Anhand maritimer Navitationsdaten lasse sich außerdem belegen, dass sich die französischen Rettungsschiffe auf eine Position konzentrierten, „die nur etwa eine Meile östlich der Trennlinie zwischen französischen und britischen Gewässern liegt“. Auch dies stützt die Vermutung, dass der Schwerpunkt der Suche zunächst auf britischem Seegebiet lag und sich dann nach Frankreich verlagerte.
Zwar bedürfe es noch einer genaueren datengestützten Rekonstruktion, doch halten es der Autor_innen für „sehr wahrscheinlich, dass die britische Küstenwache von der Situation wusste.“ Sie gehen noch sogar einen Schritt weiter und unterstellen, dass die Verantwortlichen möglicherweise bewusst nicht eingriffen und in Kauf nahmen, „dass die Reisenden zurücktreiben und in französischen Gewässern ertrinken würden.“
Möglicherweise stellt das von den Überlebenden geschilderte Verhalten der Küstenwache – die Behauptung, die Hilfesuchenden befänden sich im Hoheitsgebiet Frankreichs und dessen Küstenwache sei zuständig – keinen Einzelfall dar. Calais Migrant Solidarity und Watch the Channel belegen dies mit der Aussage eines anonym bleibenden Exilierten. Dieser beschrieb ein Vorkommniss am 20. November, also vier Tage vor der tödlichen Havarie, das starke Parallelen mit den Berichten der Überlebenden aufweist:
„It was at 3am on Saturday 20 November when we put the boat in the sea. We are 23 in the boat.
After three hours, I think, we reached the British border then the fuel ran out, I think at 7 o’clock, and then we decided to call the 999 [britische Notrufnummer]. Then we called and they told us you are in the French water without asking us for our location. They told us to call 196 [französische Notrufnummer].
First of all we did not agree to call the French. We were trying to paddle but it was very difficult because of the waves. Then we decided to call the French. When we called they asked us to send our live location, then they told us ‘You are in UK waters’.
Then we called the British again many times but they kept repeating that we were in French waters and then they ended the call. The UK guys answered us in a very rude way and it seemed like he was laughing at us.
I told him two times that there were people dying in here but he really didn’t give a shit. We sent our live location a second time to the French coastguard. We also called them again, we were trying to reach them by two phones but they kept telling us we were in the UK waters.
So I decided around 9.30am to call Utopia. Then they helped us and they were forcing the French authorities to send the boat to save us around 10am or 10.30am. The reason why I’m sharing this thing because I don’t want it to happen again because it’s related to people’s lives.“
Es war in diesem Fall also die zivilgesellschaftliche Organisation Utopia 56, die eine Rettung herbeiführte, indem sie die französische Koordinierungsstelle CROSS Griz Nez alarmierte und ihr die vorhandenen Daten übermittelte. Bei dieser Gelegenheit sei „von CROSS“ explizit der Verdacht geäußert worden, dass die britischen Behörden „absichtlich nicht eingegriffen hatten und die Menschen zurück in französische Gewässer treiben ließen.“
Watch the Channel und Calais Migrant Solidarity deuten dies als so etwas wie eine Politik der kalten Pushbacks. Die beiden Vorfälle am 20. und 24. November zeigten demnach, „dass die Border Force zwar noch keine gewaltsamen Pushbacks durgeführt hat, bei denen die Boote der Migrant_innen mit Jetskis gewendet oder in französische Gewässer zurückgeschleppt werden, dass es aber bereits zu Pushbacks kommt, indem die HM Coastguard sich bewusst weigert, Migrant_innen zur Hilfe zu kommen, von denen sie glaubt, dass sie zurück in französische Gewässer treiben werden. Diese absichtliche Unterlassung der Hilfeleistung ist eine tödliche Taktik, die die Menschen in überfüllten und seeuntüchtigen Booten viele Stunden lang auf dem Meer belässt, nachdem sie um Hilfe gerufen haben, um die Reisenden zu traumatisieren und sie von weiteren Versuchen abzuschrecken, per Boot nach Großbritannien zu gelangen.“
Gleich ob es sich um ein zynisches Kalkül dieser Art handelt oder nicht, wären die beiden Staaten nach internationalem Seerecht dazu verpflichtet, bei Notfällen zu kooperieren, statt auf den jeweils Anderen zu verweisen. Die aktuellen Fälle deuten aus Sicht von Watch the Channel und Calais Migrant Solidarity jedoch darauf hin, „dass diese Zusammenarbeit in Bezug auf in Seenot geratene Migrant_innen im Ärmelkanal faktisch nicht besteht. Vor allem die britische Regierung möchte nicht als Retter von Booten gesehen werden, sobald diese in ihre Gewässer einlaufen.“
Auch bei der im politischen Diskurs beider Regierungen so sehr in den Mittelpunkt gerückten Bekämpfung des Schleusergeschäfts scheint Großbritannien die Kooperation mit den französischen Behörden stark reduziert zu haben. Am 27. November zitierte die Zeitung Le Journal du Dimanche (€) einen Polizeivermerk, dem zufolge „die britischen Dienste keine nützlichen und verwertbaren Informationen“ mehr übermittelten. So würden beispielsweise seit August für französische Ermittlungen wichtige Daten und Fotos von Personen, die per Boot nach Großbritannien eingereist sind, nicht mehr zur Verfügung gestellt. Großbritannien bestreite dies allerdings.
Der Tod der 27 Menschen, zu denen noch einige Vermisste hinzuzuzählen sind, erweist sich immer mehr als ein Fall, der einer präzisen Untersuchung bedarf. Ihn auf Schleuserkriminalität zu reduzieren, negiert seine politische Dimension. Sollte es tatsächlich eine Praxis des Wegsehens und Wegtreibenlassens gegeben haben, so würde dies nicht nur den Verdacht eines Tötungsdelikts in mindestens 27 Fällen begründen, sondern wäre auch eine eminent politisches Handeln. Doch auch wenn sich dies als eine Fehlinterpretation erweisen sollte, wäre zu klären, warum keine funktionierende Kooperation zwischen den zuständigen Stellen beider Staaten stattfand und warum gegenüber der Öffentlichkeit irreführende Angaben darüber gemacht wurden, auf welcher Seite der Seegrenze die Havarie stattfand und welche Institution verantwortlich war.