[Udpated, 26. Dezember 2021] Um die Umstände des Todes von mindestens 27 Exilierten bei der Havarie am 24. November aufzuklären, hat Utopia 56 nun mehrere zuständige französische und britische Beamt_innen vor dem Gerichtshof (Tribunal judiciaire) von Paris verklagt. Wie die Organisation am 20. Dezember mitteilte, richtet sich die Klage gegen den Seepräfekten für den Ärmelkanal und die Nordsee, Philippe Dutrieux, den Direktor der französischen Rettungsleitstelle CROSS Griz Nez, Marc Bonnafous, die Direktorin der britischen Küstenwache, Claire Hughes, sowie mögliche andere „Täter, Mittäter oder Komplizen“. Ausgangspunkt der Klage sind die durch Flugdaten eines britischen Rettungshubschraubers gestützten Aussagen der beiden Überlebenden der Havarie, dass wiederholt abgesetzte Notrufe stundenlang nicht zu einem Rettungseinsatz führten und sich die zuständigen Stellen gegenseitig die Verantwortung zugeschoben hätten (siehe ausführlich hier und hier).
Utopia 56 lässt offen, wen man letztlich für haupt- oder mitverantwortlich hält. Die Klage gegen die Leiter_innen der drei maßgeblichen Stellen zielt vielmehr darauf ab, das Geschehen überhaupt aufzuarbeiten. „Laut den Aussagen der beiden Überlebenden, der Angehörigen von Verstorbenen und von Personen, denen die Überfahrt am selben Tag gelang, sollen vor der Entdeckung der Leichen durch ein Fischerboot Notrufe an die französischen und englischen Rettungsdienste abgesetzt worden sein. Es soll ihnen nicht sofort Hilfe geleistet worden sein. Laut einer Gerichtsquelle hätten die laufenden Ermittlungen, mit denen die Junalco (Juridiction nationale de lutte contre la criminalité organisée; Nationale Gerichtsbarkeit zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität) befasst ist, bereits die Existenz dieser Anrufe bestätigen können“, erklärt Utopia 56 zu seiner jusistischen Intervention. Von diesem Zwischenergebnis hatte auch die Zeitung Le Monde berichtet.
Darüber hinaus weist Utopia 56 erneut auf einen sehr ähnlichen Fall hin, in den die Organisation selbst vier Tage vor der Havarie involviert war: „Diese Situation von unbeantworteten Hilferufen war bereits am 20. November 2021 um 9.23 Uhr eingetreten. An diesem Morgen erhielt das Bereitschaftsdienstteam von Utopia 56 einen Notruf von einem im Wasser treibenden Boot. In einer der Sprachnachrichten, die von dem Boot aus gesendet wurden, erzählte uns eine exilierte Person: ‚Wenn ich zum Beispiel die 999 [britischer Notruf, d.Verf.] anrufe, sagen sie, rufen Sie Frankreich an, und wenn wir Frankreich anrufen, sagen sie uns, wir sollen das Vereinigte Königreich kontaktieren. Beide machen sich über uns lustig‘.“
Während britische Behörden bislang offenbar keine Ermittlungen eingeleitet hätten und sich die bisherigen französischen Ermittlungen vor allem auf Schlepperorganisationen konzentrierten, will Utopia 56 vor allem zwei Fragen klären: „Wurden die französischen und englischen Rettungsdienste informiert, und wie haben sie sich organisiert? Wer traf die Entscheidungen und wer ist für die Lücken, Nachlässigkeiten und Unvorsichtigkeiten verantwortlich, die zu diesem menschlichen Drama geführt haben?“ Neben der Klärung der Schuldfrage müssten Lehren für künftige Notsituationen gezogen werden.
Die französische Seepräfektur hatte im Dezember zunächst ausgeschlossen, dass ein Notruf unbeantwortet geblieben sein könnte. Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP gab sie nun keine weitere Stellungnahme hierzu ab, wies aber auf die große Zahl von teils extremen Rettungseinsätzen am betreffenden Tag hin. Die britische Küstenwache wiederum erklärte nach Einreichung der Klage, sie äußere sich nicht zu Einzelfragen des laufenden Verfahrens. Am 24. November seien über 90 Notrufe vom Ärmelkanal eingegangen. „Jeder Anruf wurde entgegengenommen, unterstützt und bearbeitet, einschließlich des Einsatzes von Search and Rescue-Ressourcen, wo dies angemessen war. Wir haben immer und werden immer auf jeden reagieren, der in Not ist, so wie an diesem Tag.“
Die juristische Untersuchung wird vielleicht zeigen, ob dies so war oder nicht. Bislang steht die Aussage der Überlebenden gegen Statements wie dieses.
Kurz nach Einreichung der Klage legte BBC eine detaillierte Rekonstruktion der Havarie vor, in der es auch um die Lokalisierung im französischen oder britischen Hoheitsgebiet geht. Eine dem Sender exklsiv vorliegende Analyse komme, so heißt es, zu dem Schluss, „dass sich das Migrantenboot britischen Gewässern zwar genähert hat, aber nie in sie eingedrungen ist. Die Wetter- und Strömungsdaten, die während des gesamten Tages an diesem Ort gemessen wurden, deuten darauf hin, dass das Boot mit Sicherheit umhergetrieben wurde. Aus der Position, an der die Migranten gefunden wurden, und der Richtung der Strömung lässt sich jedoch ableiten, dass die Wellen sie nicht aus den britischen Gewässern zurückgedrängt hätten.“
Eine der offenen Fragen, nämlich die nach dem Ort, könnte sich auf dieser Grundlage klären. In diesem Fall läge die Verantwortung vorrangig bei den französischen Behörden.