Wie ein ehemaliger australischer Außenminister die britische Grenzpolitik radikalisieren könnte
Zum ersten Mal ihrer Geschichte wird UK-Border Force einer Überprüfung ihrer Strukturen, Befugnisse, Finanzierung und Pritoritäten unterzogen. Was auf den ersten Blick wie ein bürokratisches Verfahren erscheinen mag, ist ein zutiefst politischer Akt, und zwar nicht nur, weil es um die Bekämpfung der Bootsmigration auf der Kanalroute geht. Denn Innenministerin Priti Patel beauftragte eine Person mit der Überprüfung, die für eine besonders repressive Spielart der Migrationspolitik steht: Alexander Downer.
Der frühere australische Außenminister war in seiner Amtszeit (1996-2007) mitverantwortlich für die unter dem Namen ‚Pazifische Lösung‘ bekannt gewordene Grenzpolitik seines Landes, bestehend aus radikaler Abschottung, Kriminalisierung der bloßen Einreise und Internierung auf entlegenen Inseln. „Pacific Solution-mastermind Alexander Downer to review UK’s Border Force“, nannte die australische Zeitung Sydney Morning Herald einen Artikel über Downers neue Tätigkeit. Zwar dürfte klar sein, dass sich das australische Grenzregime der 2000er-Jahre nicht ohne weiteres auf den Ärmelkanal übertragen lässt. Aber die Berufung Downers könnte bei der Durchsetzung von Pushbacks helfen und den politischen Diskurs in Richtung Offshore-Asylverfahren radikalisieren. Solidarische Initiativen wie etwa Channel Rescue sich über die Entwicklung tief besorgt.
Downers Überprüfung der Border Force soll drei Monate in Anspruch nehmen und durch sechs Bedienstete des Innenministeriums unterstützt werden. Über den Untersuchungsauftrag ist wenig bekannt, allerdings liegt die Vermutung nahe, dass institutionelle Reformen vorbereitet und Hemmnisse für innerbehördlich umstrittene Maßnahmen wie Pushbacks abgebaut werden sollen. Zwar hatte die Border Force im vergangenen September Pushbacks trainiert, doch war die Gewerkschaft der Grenzbeamt_innen Ende 2021 gerichtlich gegen Pushbacks vorgeganen. Im Januar folgte die Unterordnung der Border-Force-Operationen zur Bekämpfung der Kanalroute unter die Federführung des Militärs, was einem Kompetenzentzug gleichkommt (siehe hier). Dies lässt vermuten, dass die Border Force nicht vollständig im Sinne der Innenministerin funktioniert und nun auf Linie gebracht werden soll.
Unter dem Titel „We turned the boats around – and Britain can too“ warb Downer bereits am 10. Septemer 2021 in einem Gastbeitrag für das Boulevardblatt Daily Mail für eine Adaption der ‚Pazifischen Lösung‘: „Aus meiner Erfahrung als ehemaliger australischer Außenminister weiß ich, dass eine ‚Pushback‘-Politik funktionieren kann.“ Und als ginge es bereits um den künftigen Aufgabenkatalog der Border Force, dozierte er: „Also beschlossen wir, direkt zu handeln. Wir schickten Patrouillenboote aus, um die Schiffe der Schleuser abzufangen, enterten sie und übernahmen das Kommando. Es wurden Sicherheitschecks und laufende Reparaturen durchgeführt, dann wurden die Boote der Migranten aufgetankt und zurück nach Indonesien gelenkt. Schiffe der australischen Marine patrouillierten in den Gewässern, um sicherzustellen, dass sie nicht wieder umkehren. Wir übermittelten den indonesischen Behörden auch die genauen Koordinaten der Boote, damit sie deren Fortschritt überwachen und im Notfall zur Stelle sein konnten.“ Inwiefern sich Downer mit diesem Artikel ins Spiel brachte oder ob er bereits im Spiel war, als er ihn schrieb, bleibt spekulativ. Jedenfalls weist der Sydney Morning Herald darauf hin, dass sich Innenministerin Patel bereits „im vorigen Jahr“ an Downer gewandt habe.
Am 16. Februar 2022, zwei Tage bevor die britischen Medien über Downers Beauftragung zur Revision der Border Force berichteten, legte der konservative britische Thinktank Policy Exchange eine Papier vor, das ebenfalls Elemente der australischen Grenzpolitik auf den Ärmelkanal überträgt. Kuratoriumsvorsitzender des Thinktanks ist niemand anders als Alexander Downer.
Das 44-Seitige Dokument mit dem Titel Stopping the Small Boats: a „Plan B“, zu dessen Autorenteam Downer selbst offenbar nicht zählt, beschreibt zwei Szenarien, die als Plan A bzw. B bezeichnet werden. In Plan A schließt Großbritannien mit Frankreich und möglichst auch mit Belgien und anderen Nordseeanrainern „ein Abkommen, nach dem autorisierte britische Schiffe die Boote auf See außerhalb der französischen Gewässer (oder sogar bei der Ausschiffung an der britischen Küste) abfangen und sie (oder ihre Passagiere) zu einem Hafen in Frankreich zurückbringen.“ Eine „noch bessere Version von Plan A“ würde eine Vereinbarung mit der EU über „gemeinsame Patrouillen Großbritanniens und der EU im Ärmelkanal“ einschließen (S. 7).
Ein solches Abkommen sei jedoch momentan unrealistisch (siehe hier und hier), und so stellen die Autoren mit Plan B ein Stück ‚Pazifische Lösung‘ in den Raum: „Sollte eine solche Vereinbarung nicht zustande kommen, würde Plan B darin bestehen, Personen, die versuchen, mit kleinen Booten in das Vereinigte Königreich einzureisen, an einen Ort außerhalb des Vereinigten Königreichs zu bringen – sei es auf die Kanalinseln, auf hoheitliche Stützpunkte in Zypern [gemeint sind wohl britische Militärbasen, d.Verf.] oder auf die Insel Ascension [britisches Überseegebiet im Südatlantik, d.Verf.] –, wo ihre Asylanträge geprüft würden. Wirtschaftsmigranten (abgelehnte Asylbewerber) würden in ihr Heimatland oder in einen anderen aufnahmewilligen Staat zurückgeschickt. Echte Flüchtlinge würden in einen anderen sicheren Staat als das Vereinigte Königreich umgesiedelt werden. Keine Person, die mit einem kleinen Boot aus einem sicheren Land in das Vereinigte Königreich einreist (oder dies versucht), würde sich im Vereinigten Königreich niederlassen dürfen, selbst wenn es sich um einen echten Flüchtling handelt.“ (Abstract)
Innenministerin Patel hat also eine Person in die Neuausrichtung ihrer Grenzschutzbehörde einbezogen, die – flankiert von einem durchaus prominenten Thinktank – ungeniert für Pushbacks, Internierungen auf Inseln und in Militärbasen und Abschiebungen anerkannter Flüchtlinge wirbt. Dies ist nicht wirklich neu, denn bereits ihr New Plan for Immigration und die darauf aufbauende Nationality and Borders Bill beinhalten die Möglichkeit von Pushbacks und Offshore-Verfahren (siehe hier und hier). Auch hat Großbritannien mit mehreren Drittstaaten u.a. in Afrika über mögliche Offshore-Asyleinrichtungen verhandelt, ist bislang aber stets gescheitert. So detailverliebt das Autorenteam des Thinktanks also die rechtlichen Facetten seines B-Plans darlegt, so sehr baut es damit ein konservatives Luftschloss.
Die Besorgnis von Channel Rescue rührt weniger daher, dass das inhumane australische Modell nun eins zu eins auf den Ärmelkanal übertragen würde. „Problematisch ist, dass Downer den Kontext nicht versteht“, schreibt Steven Martin in einem Statement der Gruppe. Downers Äußerungen zur Kanalroute offenbaren, so Martin, ein naives Verständis von Migration, das von einer Fehldeutung der Migrationsgründe – laut Downer handelt es sich pauschal um Wirtschaftsmigranten, obwohl annähernd 100 % der Channel migrants Asylanträge stellen, die sehr oft von Erfolg gekrönt sind – und einer massiven Überschätzung der Wirkmacht abschreckender Maßnahmen geprägt sei. Zu befürchten ist ein also weiteres Abdriften der Grenzpolitik hin zu einem konservativen Wunschdenken, das von einem realistischen und menschenrechtlichen Verständnis von Migration entkoppelt ist und mit dem der rechtsfreie Raum entlang der EU-Außengrenzen weiter expandiert.