Wie französische Medien berichten, wurden Ende Juni fünfzehn Personen in Polizeigewahrsam genommen. Sie werden verdächtigt, als Angehörige einer Schleusungsorganisation für die Havarie am 24. November 2021 verantwortlich zu sein, bei der mindestens 27 Menschen im Ärmelkanal ertranken. Es war die tödlichste Havarie in der Geschichte der Kanalroute. Doch beleuchtet die nun beginnende strafrechtliche Aufarbeitung nur einen Teil des Geschehens, das zur Katastrophe führte.
Das Verfahren ist seit Dezember an einem Pariser Gericht anhängig. Nach Angaben des Senders RTL haben Ermittler_innen des Office central pour la répression de l’immigration irrégulière (Ocriest) „einen Teil des Netzwerks rekonstruiert, das beschuldigt wird, die Reise ohne Rückkehr von 27 Migranten aus dem Irak, Afghanistan und Äthiopien organisiert zu haben.“
In der Nacht vom 26. zum 27. Juni 2022 nahmen Beamt_innen des Ocriest und der Brigade mobile de recherche de la Police de l’air et des frontières dreizehn Männer und zwei Frauen im Alter zwischen 18 und 41 Jahren fest. Dies geschah vor allem in Nordfrankreich und im Großraum Paris. „Alle wurden verdächtigt, auf verschiedenen Ebenen an der Anwerbung, dem Transport, der Unterbringung und schließlich der Einschiffung von Familien, die um jeden Preis nach Großbritannien gelangen wollten, auf einem Schlauchboot in Loon-Plage in der Nähe von Grande Synthe beteiligt gewesen zu sein“, so RTL unter Berufung auf eine Justizquelle.
Einer der Festgenommenen wurde am 29. Juni u.a. wegen fahrlässige Tötung und fahrlässiger Körperverletzung, Gefährdung anderer Personen und Beihilfe zur Einreise und zum Aufenthalt eines Ausländers nach Frankreich im Rahmen einer organisierten Bande angeklagt. Neun weitere Verdächtige wurden am 30. Juni einem Pariser Untersuchungsrichter vorgeführt und fünf ohne Anklageerhebung wieder freigelassen.
Zu welchem Ergebnis das Strafverfahren auch führt, es wird lediglich einen Teil des Geschehens aufklären können. Zum einen verweisen die genannten Vorwürfe auf untergeordnete Tätigkeiten innerhalb der arbeitsteiligen Struktur eines hochprofitablen Schleusungsunternehmens, während die Unternehmer_innen selbst nicht greifbar sind. Der illeguläre Transport von Menschen, denen legale Wege aus politischen Gründen verschlossen worden sind, geht im Raum Dunkerque seit Jahren mit einer Art privatem Gewaltmonopol über informelle Camps einher, das gegen Exilierte repressiv durchgesetzt und gegen die Konkurrenz gewaltsam verteidigt wird (siehe hier). Ein Überlebender der Havarie vom 24. November 2021 sprach gegenüber einem kurdischen Sender von Todesdrohungen für den Fall, dass er Informationen an die Behörden weitergebe (siehe hier). Diese Form struktureller Gewalt ist nicht Gegenstand des aktuellen Strafverfahrens, sehr wohl aber der Lebenwirklichkeit zahlloser Exilierter.
Zum anderen starben die meisten der mindestens 27 Menschen (nicht in der Zahl enthalten sind die Vermissten) in einer Zeitspanne, als das havarierte Schlauchboot einen halben Tag lang auf See trieb und die Passagier_innen Notrufe an britische und französische Rettungsdienste absetzten, die nach Aussage der Überlebenden jeweils auf die Zuständigkeit der anderen Seite verwiesen. Offenbar verhinderten diese Kompetenzschwierigkeiten eine rechtzeitige Rettung der meisten Passagier_innen (siehe hier, hier, hier und hier). Für diesen Teil des Geschehens trägt keiner der Bechuldigten die Verantwortung.
Es ist zu hoffen, dass die juristische Aufarbeitung des Falles die Komplexität des Geschehens nicht aus dem Blick geraten lässt. Die jetzt Beschuldigten sind, sollte ihre Schuld nachgewiesen werden, lediglich Mitverantwortliche.