Seit dem 6. September 2022 amtiert die frühere Generalstaatsanwältin Suella Braverman als Innenministerin der Regierung Truss. Bereits während ihrer Kandidatur für den Vorsitz der Konservativen Partei hatte sie angekündigt, sie werde die Bootspassagen im Ärmelkanal stärker bekämpfen, das Abkommen mit Ruanda umsetzen und rechtliche Hindernisse ausräumen. In ihrer Grundsatzrede auf dem Parteitag der Tories in Birmingham am 4. Oktober 2022 machte sie nun erneut deutlich, dass die Bekämpfung der Kanalroute eines ihrer zentralen politischen Ziele ist. Wie genau, bleibt noch unklar. Aber während ihrer Amtszeit könnten Angriffe auf rechtstaatliche Normen zum Mittel der Wahl werden.
Braverman vertritt eine Weltsicht am rechten Rand des britischen Konservatismus. Dies machte sie auch in ihrer Rede deutlich. Auf der einen Seite stehen für sie die Polizei und die „gesetzestreue Mehrheit“ – und auf der anderen Seite der „Mob“: We need common sense policing. Unashamedly and unapologetically on the side of the law-abiding majority. That means that the mob needs to be stopped. Den ersten Teil ihrer Rede widmet Braverman ganz diesem Thema.
Der „Mob“, wie sie ihn sich vorstellt, ist links und aktivistisch. Sie spricht von einem „Gift“, das die Öffentlichkeit verseuche: But make no mistake, the Left are attacking our profound, elemental values, wanting to replace them with the poison of identity politics. And when poison seeps into the public sphere, it distracts our public servants from doing their real job. Neben linker Identitätspolitik ordnet sie an dieser Stelle ihrer Rede vor allem klimapolitische Initiativen wie Just Stop Oil, Insulate Britain und Extinction Rebellion der feindlichen Seite zu. Wichtig in unserem Kontext ist dies, weil Braverman dieses Muster später auf das Thema Migration ausweitet.
Erst nachdem Braverman dies klargestellt hat, legt sie ihre Vorstellungen zur polizeilichen Kriminalitätsbekämpfung dar. Verwoben ist dies mit Statements zur Migration im Allgemeinen und zur Migration ihrer Eltern nach Großbritannien. Diesen Teil ihrer Familiengeschichte verklärt sie zu einem patriotischen Akt und stellt ihn den heutigen Bootspassagen diametral gegenüber, obschon das, was sie über die Migration ihrer Eltern sagt, vieles von dem spiegelt, was auch heutige Migrant_innen antreibt. Dieser mittlere Part ihrer Rede bereitet ihren dramaturgischen Höhepunkt vor: And lastly we have got to stop the boats crossing the Channel. This has gone on for too long. But I have to be straight with you, there are no quick fixes. The problem is chronic. Organised criminal gangs are selling a lie to thousands of people. Many are drowning in the Channel. Many are leaving a safe country like France and abusing our asylum system.
Diese wenigen Sätze fassen die gängigen Klischees, Zerrbilder und Unterstellungen der britischen Rechten in Bezug auf die Channel migrants zusammen, beinhalten jedoch auch ein Eingeständnis des Scheiterns: The problem is chronic. Bravermans Amtsvorgänger_innen hatten eine Beendigung der Bootspassagen in absehbarer Zeit angekündigt, während die Kanalroute in Wirklichkeit immer stärker frequentiert wurde und wird.
Braverman vermeidet diesen Fehler und bleibt in ihrer Rede hinreichend vage. Sie benennt zunächst vier Themen, die in erster Linie das bestehende Grenzregime fortschreiben und neu justieren.
Firstly, our work with the French has prevented about half of all crossings. I know that alone will not work. So I will work closely with the French to get more out of our partnership. Both on the French coastline and further upstream against the organised criminal gangs.
Solche bilateralen Vereinbarungen mit Frankreich stellen seit den 1990er-Jahren das Rückgrat der britischen Grenzregimes in der Kanalregion dar. In der Regel werden sie jährlich oder zweijährlich in schriftlichen Vereinbarungen fortgeschrieben, in denen nicht zuletzt der Finanzrahmen für britische Maßnahmen auf französischem Staatsgebiet festgelegt wird (siehe hier). Im Herbst 2021 war es zu einem offenen Konflikt zwischen den Regierungen Johnson und Macron über die Bekämpfung der Bootspassagen gekommen; im Frühjahr 2022 wurde ein Teilprojekt zur Kameraüberwachung der nordfranzösischen Küste weitgehend abgebrochen (siehe hier). Eine neuerliche Vereinbarung auf Ebene der Innenminister_innen steht daher ohnehin an und wurde am Rande des Prager Gipfels der Europäischen Politischen Gemeinschaft am 6. Oktober 2022 von Liz Truss und Emanuel Macron für den laufenden Herbst angekündigt.
Secondly, we need to find a way to make the Rwanda scheme work.
Thirdly, we need to do more to get asylum-seekers out of hotels – currently costing the British taxpayer £5 million per day.
And fourth, we cannot allow a foreign court to undermine the sovereignty of our borders.
Während Bravermans dritter Punkt – die Beendigung von Hotelunterbringungen – ein populistisch aufgeladenes innenpolitisches Thema aufgreift, weisen die beiden anderen Punkte in eine rechtspolitische Richtung. Sie nehmen jene rechtstaatlichen und menschenrechtlichen Strukturen ins Visier, die bislang verhindert haben, das Menschen gegen ihren Willen nach Ruanda verbracht wurden.
Dieser Angriff auf das Recht gilt zum einen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Braverman hatte bereits während ihrer gescheiterten Kandidatur zum Parteivorsitz einen Austritt Großbritanniens aus dem Geltungsbereichs des Gerichtshofs gefordert – und damit eine politische Linie eingenommen, die sonst eher von den ‚illiberalen Demokratien‘ Mittelosteuropas bekannt ist. In ihrer Rede sagt sie über die Ruanda-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: A few months ago, the European Court of Human Rights in Strasbourg did just that, by a closed process, with an unnamed judge and without any representation by the UK, a European court overrode our Supreme Court. As a result, our first flight to Rwanda was grounded. We need to take back control. But friends, I need to be honest with you. The Strasbourg Court is not the only problem.
Als dieses andere Problem führt Bravermann eine lange Reihe von Fällen an, bei denen sich Migrant_innen unter Berufung auf britische Schutzrechte vor Menschenhandel und moderner Sklaverei vor einer Abschiebung schützen konnten. Ihre Aufzählung reicht von albanischen Bootsmigrant_innen der Kanalroute, die von der britischen Rechten momentan zu einem Reizthema stilisiert werden, bis hin zu diversen Straftätern, die schlicht nichts mit der Kanalroute zu tun haben: And it’s not just illegal migrants. Since entering the Home Office I have seen egregious examples of convicted paedophiles and rapists trying to game the system. Braverman setzt die Bootsmigrant_innen auf diese Weise mit gesellschaftlich besonders geächteten Gewalttätern in eins.
Neben dem Angriff auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergibt sich hieraus die zweite rechtspolitische Stoßrichtung der Rede. Sie richtet sich gegen Rechtsanwält_innen, die sich auf Migrationsrecht spezialisiert, Abschiebungen verhindert und gerichtliche Erfolge gegen die konservative Agenda errungen haben. Im rechten Diskurs gelten sie als ‚aktivistische‘ Anwälte, denen unterstellt wird, Recht nicht anzuwenden, sondern zu missbrauchen. Auch sie stehen auf der anderen Seite, der Seite des „Mobs“.
Braverman beendet ihre Rede mit der Ankündigug neuer Gesetze. Ein halbes Jahr nach dem Inkrafttreten des repressiven Nationality and Borders Act verspricht sie einen neuen legislativen Vorstoß, um Menschen, die „absichtlich illegal“ nach Großbritannien eingereist seien, noch radikaler aus dem Asylsystem auszuschließen (zur tatsächlichen Legalität der Einreise siehe hier). Andere Migrant_innen, deren Einreise aus konservativer Sicht wünschenswert ist, etwa weil sie die durch den Brexit gerissenen Lücken im Arbeitsmarkt schließen könnten, sollen auf einer safe and legal route einreisen dürfen, von der die Bootspassagiere kategorisch ausgeschlossen bleiben. Und schließlich benennt Bravermann gesetzlichen und gerichtlichen Schranken, die ihrer Meinung nach fallen sollen. So, Conference, I will commit to you today, that I will look to bring forward legislation to make it clear that the only route to the United Kingdom is through a safe and legal route. […] If you deliberately enter the United Kingdom illegally from a safe country, you should be swiftly returned to your home country or relocated to Rwanda that is where your asylum claim will be considered. UK policy on illegal migration should not be derailed by abuse of our modern slavery laws, Labour’s Human Rights Act, or orders of the Strasbourg Court. And we will always of course work within the bounds of international law, but we cannot allow this abuse of our system to continue.
All dies ist nicht wirklich neu. Eine ausgearbeitete Agenda legte Bravermann, sieht man von der Akzentverschiebung hin zur Rechspolitik ab, in ihrer Parteitagsrede nicht vor. So bleibt ihr am Ende nicht viel mehr als das Einschwören gegen den Mob, der sich hier als die liberale und rechtstaatlich verfasste Demokratie erweist: And there are many forces working against us. The Labour Party will try to stop this. The Lib Dems will go bananas. The Guardian will have a meltdown. As for the lawyers. Don’t get me started on the lawyers.
Zahlreiche britische Medien zitierten Braverman noch mit einer anderen Äußerung, die sie am Rande desselben Parteitags tätigte. Sie sagte, wovon sie träume und wovon sie besessen sei: I would love to have a front page of The Telegraph with a plane taking off to Rwanda, that’s my dream, it’s my obsession.
Dream und obsession sind nicht nur Kategorien außerhalb von Politik und Recht, sondern auch außerhalb von Rationalität und Realität. Sie werden das Geschehen auf der Kanalroute kaum tangieren können, aber das Elend für die betroffenen Menschen verhärten. The problem is chronic.