Migrationspolitik nach der Ratifizierung des Ruanda-Deals
Seit Ende April greift die britische Regierung zu Maßnahmen gegen sogenannte Illegale, die in liberalen Demokratien beispiellos sind: Nachdem Ruanda per Gesetz zum sicheren Drittstaat erklärt wurde, werden Geflüchtete inhaftiert, um sie im Sommer dorthin auszufliegen. Ein System zur Unterbringung Schutzsuchender verwandelt sich in ein System der Haft. Ein Teil der Betroffenen verlässt das Land und reist über die irische Landgrenze wieder in die EU ein, die sie mit der Passage des Ärmelkanals verlassen hatten. Irland kündigt Notstandsmaßnahmen an. Internationale Organisationen protestieren scheinbar folgenlos. Es ist ein Szenario, als würden Rassemblement National in Frankreich oder AfD in Deutschland die Agenda setzen. Was bedeutet dies? Für diejenigen, die per Boot oder Laster nach Großbritannien eingereist sind, sind die Folgen existenziell: Verlust der Freiheit. Abschiebung in ein Land, in das sie nie wollten. Scheitern der Reise, für die sie Leben und Besitz riskiert haben. Für manche noch Schlimmeres. Doch auch für liberale Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit bedeutet der britische Irrweg eine Bedrohung. Wir versuchen einen Überblick.
Eigentlich ein Scheitern
Die Situation ist bizarr. Als die britische Regierung, damals noch mit Boris Johnson als Premierminister und Priti Patel als Innenministerin, im April 2022 ihren Deal mit Ruanda schloss (siehe hier), ging sie davon aus, die irreguläre Migration über den Ärmelkanal in absehbarer Zeit reduzieren, ja sogar die Kanalroute ganz schließen zu können: Man werde, indem man die Channel migrants ohne Prüfung eines Asylantrags und ungeachtet ihrer Herkunft nach Ruanda fortschaffe, wo sie dann eine Asylgesuch nach ruandischem Recht stellen könnten, ‚das Geschäftsmodell der Schleuser brechen‘. Die Kanalroute werde ‚unrentabel‘ werden. Und indem man die Menschen von der letzten Etappe ihrer Reise abschrecke, rette man Menschenleben. Seither beobachten wir eigentlich ein Scheitern.
Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Juni 2022 den ersten Flug nach Ruanda in letzter Minute stoppte (siehe hier), fand kein weiterer Abschiebeversuch statt, auch, weil die britische Justiz feststellte, dass Ruanda kein sicheres Drittland sei. Die britische Regierung, nun unter Premier Sunak und Innenministerin Suella Braverman, reagierte mit einer Präzisierung ihrer Vereinbarung mit Ruanda und, nun unter Innenminister James Cleverly, mit dem Safety of Rwanda (Asylum and Immigration) Act 2024. Das Gesetz unterläuft die Entscheidung des obersten Gerichts, indem es Ruanda kurzerhand für sicher erklärt. Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens übte die Regierung massiven Druck aus, um Änderungswünsche des Oberhauses abzuwehren. Am 23. April 2024 wurde das Gesetz unverändert verabschiedet, am 25. April folgte die Unterzeichnung durch den König, wodurch es in Kraft trat. Damit ist zugleich das Abkommen der britischen Regierung mit Ruanda ratifiziert.
In den beiden Jahren von April 2022 bis April 2024 flossen erhebliche Summen nach Ruanda, aber auch in den Aufbau einer lagerartigen Infrastruktur und weitere innerbritische Maßnahmen. Ohne auch nur eine einzige Person nach Ruanda ausgeflogen zu haben, summierten sich die Kosten auf schätzungsweise eine halbe Milliarde Pfund, zusätzlich zu den erheblichen britischen Zahlungen an Frankreich zur personellen Aufstockung und technischen Aufrüstung der Küstenüberwachung am Ärmelkanal.
In derselben Zeit sank die Zahl der Bootspassagen nicht, sondern erreichte im Jahr 2022 einen Jahreshöchstwert von knapp 46.000 Personen, gefolgt von einem Rückgang auf knapp 30.000 Personen in 2023. Seitdem steigt die Zahl der Bootspassagen wieder an und übertrifft seit Jahresbeginn den Vergleichszeitraum aller Vorjahre. Zwischen dem 1. Januar und 1. Mai dieses Jahres registrierten die britischen Behörden die Ankunft von 8.278 Passagier_innen, davon 1.610 seit Inkraftsetzung des neuen Gesetzes. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum der Jahre 2022 und 2023 lag die Zahl bei 6.945 bzw. 6.192 Personen.
Dies bedeutet: Obschon der Ruanda-Deal wie ein Damoklesschwert über den Channel migrants hing, hat er die versprochenen Effekte nicht bewirkt. Die Kanalroute ist frequentierter denn je. Das Geschäftsmodell der Schleuser funktioniert ungebrochen. Die Zahl tödlicher Vorfälle ist nicht zurückgegangen, sondern stark angestiegen, auch und gerade in den letzten Monaten. Menschenleben wurden nicht geschützt, sondern waren noch nie so gefährdet. Eigentlich beobachten wir also ein Scheitern.
Eine Falle schnappt zu
Um zu verstehen, was momentan geschieht, müssen wir uns den Aufbau eines weiteren Gesetzes vor Augen führen: des Illegal Migration Act 2023 (siehe hier). Bereits im Juli 2023 in Kraft getreten, stellt es das Herzstück der Stop the boats-Kampagne der britischen Regierung dar. Das Gesetz verwehrt Bootspassagier_innen ein Anerkennungsverfahren nach britischem Recht; es sieht vor, dass sie in ein Drittland wie Ruanda verbracht und zu diesem Zweck inhaftiert werden sollen. Solange jedoch das Ruanda-Abkommen nicht umsetzbar war, blieben die schärfsten Regelungen des Gesetzes unwirksam (siehe hier). Mit der Ratifizierung hat sich dies geändert. Die zunächst entschärfte Falle droht nun zuzuschnappen.
Vorweg: Ob die Regierung Sunak am Ende Menschen gegen ihren Willen nach Ruanda ausfliegen wird, ist auch jetzt keineswegs sicher. Dennoch bereitet sie nun mit hohem Druck erste Abschiebungen vor und nennt den Juli als möglichen Beginn. Britische Medien zitieren Unterlagen, nach denen 5.700 Personen für eine erste Tranche solcher Abschiebungen identifiziert wurden – aber nur „2.143 melden sich weiterhin beim Innenministerium und können für eine Inhaftierung ausfindig gemacht werden“. Die übrigen dürften aus Furcht untergetaucht sein. Man könnte auch von einer weiteren Flucht sprechen.
Die für die Abschiebung nach Ruanda vorgesehenen Menschen kamen in der Vergangenheit nicht in Haft, vielmehr galt und gilt die genannte Meldepflicht. Ein 2023 begonnenes Modellprojekt zur GPS-Überwachung von 600 Asylsuchenden durch Peilsender am Körper scheiterte jüngst am Einspruch der britischen Datenschutzbehörde. Parallel dazu treibt die Regierung die Unterbringung in lagerartigen Massenunterkünften, darunter das Wohnschiff Bibby Stockholm in Portland, voran, um stärkeren Zugriff auf die Personen zu haben.
Inzwischen haben die Inhaftierungen begonnen. Am 1. Mai bestätigte das Innenministerium, dass „eine Serie landesweiter Operationen“ laufe. Ein am gleichen Tag veröffentlichtes Werbevideo des Ministeriums zeigt, wie ein Mann aus seiner Wohnung geholt, in Handschellen abgeführt und in einen Gefangenentransporter gesperrt wird. Das laute Zuschlagen der Wagentür ist als letzter Beat der musikalischen Untermalung arrangiert. Das viral verbreitete Video erzeugt den Eindruck, eine Falle sei zugeschnappt. Ein Wendepunkt sei erreicht.
Angesichts dieser Situation wich offenbar eine unbekannte Zahl früherer Channel migrants über Nordirland in die Republik Irland aus. Ende April erklärte die irische Justizministerin Helen McEntee, dass die Zahl der Einreisen über die britisch-irische Landgrenze angestiegen sein und ihr Anteil mittlerweile 80 Prozent der Asylsuchenden ausmache. Die Angaben sind umstritten, weil eine belastbare empirische Grundlage fehlt, allgemein wird jedoch angenommen, dass Angst vor einer Abschiebung nach Ruanda der Grund ist. Damit in Verbindung gebracht wird außerdem ein Camp in der Nähe des International Protection Office im Zentrum von Dublin, allerdings besteht das Camp bereits seit dem vergangenen Jahr.
Die irische Regierung ließ das Camp Ende April räumen. Gleichzeitig kündigte sie eine Notstandsgesetzgebung an, um aus Großbritannien eingereiste Migrant_innen dorthin abschieben zu können. Zwar besteht zwischen beiden Staaten seit 2020 eine Rückführungsvereinbarung, doch war diese zunächst wegen der Pandemie ausgesetzt worden, im März 2024 untersagte das oberste irische Gericht dann Abschiebungen nach Großbritannien, weil das Land wegen des Ruanda-Deals kein sicheres Drittland sei. Sunak seinerseits erklärte Ende April, seine Regierung werde „keine Rückführungen aus der EU über Irland akzeptieren, wenn die EU keine Rückführungen nach Frankreich akzeptiert, woher die illegalen Migranten kommen“. Bereits seit Jahren fordert London ein solches Abkommen mit der EU ein. Das Fehlen einer solchen Vereinbarung gilt als einer der Gründe dafür, dass Großbritannien bislang nicht zu Pushbacks an der Seegrenze zu Frankreich übergegangen ist. Eine ähnliche Pattsituation zeichnet sich nun bezüglich der nach Irland ausgewichenen Menschen ab.
Währenddessen berichteten britische und internationale Medien, dass am 29. April ein erster Geflüchteter aus Großbritannien nach Ruanda gebracht worden sei; die ruandischen Behörden bestätigten die Meldung umgehend. Haben die Abschiebungen also begonnen, wie die Meldung nahelegt? Nein. Denn der Mann hat von einem anderen Verfahren Gebrauch gemacht, bei dem Großbritannien die freiwillige Ausreise nach Ruanda mit der Zahlung eines Startkapitals unterstützt (siehe hier). Aber populistisch verzerrt dürfte der Fall den Eindruck erzeugen, das große Fortschaffen nach Ruanda habe begonnen.
Irrweg in eine defekte Demokratie
Trotz der Massivität der gegenwärtigen Entwicklung bleibt das Ende offen. Repräsentanten des UNHCR und des Europarats zeigten sich entsetzt über das neue britische Gesetz. Politiker_innen der Labour Party ließen erkennen, dass sie die Ruanda-Politik bei einem erwartbaren Wahlsieg nicht weiter betreiben würden. Eine Gewerkschaft, deren Mitglieder das Gesetz umzusätzen hätten und dabei gegen internationales Recht verstoßen müssten, kündigte eine Klage gegen die Regierung an. Bereits in der Vergangenheit haben Jurist_innen, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft erfolgreich gegen vergleichbare Vorhaben der Regierung interveniert, wobei sie sich auf eine unabhängige Justiz stützten konnten. Und selbstverständlich muss London davon ausgehen, dass am Ende der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen wird. Er dürfte kaum anders entscheiden als 2022.
Der Safety of Rwanda (Asylum and Immigration) Act 2024 beinhaltet in Abschnitt 5 jedoch eine explizite Ermächtigung der britischen Regierung, sich über Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinwegzusetzen, sollte er erneut einstweilige Maßnahmen gegen eine Abschiebung nach Ruanda anordnen. Das Gesetz legt es nun in die Hand der Minister_innen „zu entscheiden, ob das Vereinigte Königreich der einstweiligen Maßnahme nachkommt.“ Auch britischen Gerichten wird es untersagt, einstweilige Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Prüfung von Rechtsmitteln gegen eine solche Abschiebung zu berücksichtigen.
Eine solche Missachtung der europäischen Gerichtsbarkeit ist ungeheuerlich. Sie bricht mit dem Kernprinzip jeglicher Rechtstaatlichkeit: der Bindung der Regierung an Recht und Rechtsprechung, verbunden mit dem Primat der Menschenrechte gegenüber der Verwaltung. Trotz des Brexit ist Großbritannien weiterhin Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention und Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind daher auch für London bindend. Mit diesem Prinzip zu brechen, führt in eine defekte Demokratie und vermittelt einen Vorgeschmack auf ein nicht mehr liberales, nicht mehr rechtstaatliches und nicht mehr demokratisches Europa, sollten sich populistische, rechtskonservative und rechtsextreme Akteure bei den bevorstehenden Wahlen weiter durchsetzen. An diesem Punkt geht es um unendlich viel mehr als um Schlauchboote, Ruanda und Migration, und das Ende ist offen.